Der Traum des Kelten
Skandal könnte sich auch für ihn nachteilig auswirken. Der Konsul war ein kleinmütiger Mensch, dessen Werteskala von seiner Habgier bestimmt wurde.
An einem der folgenden Tage begab sich Roger in die Mission, um mit Pater Urrutia zu sprechen, aber dort hieß es, der Superior sei unterwegs nach Pebas in ein Dorf der Yagua-Indios – Roger hatte bei einem Zwischenstopp der Liberal einige Yagua zu Gesicht bekommen und war von ihren wallenden Lianengewändern sehr beeindruckt gewesen –, um eine Schule einzuweihen.
So widmete sich Roger bis zur Abfahrt der Atahualpa , deren Ladung unterdessen im Hafen von Iquitos gelöscht wurde,einer ersten Fassung seines Berichts. Nachmittags unternahm er Spaziergänge, zweimal ging er ins Kino Alhambra an der Plaza de Armas. Es war zwei Monate zuvor eröffnet worden und zeigte Stummfilme, die etwas kakophon von einem dreiköpfigen Orchester begleitet wurden. Das wahre Spektakel bestand für Roger nicht in den Filmen selbst, sondern in der Reaktion des Publikums, Indios und Soldaten der Garnison, das entgeistert auf die Leinwand starrte.
Einmal marschierte er bis nach Punchana. Auf dem Rückweg regnete es so heftig, dass Roger durch Morast waten musste. Die Landschaft war allerdings atemberaubend. Und eines Nachmittags versuchten Omarino, Arédomi und er zu Fuß bis nach Quistococha zu gelangen, doch sie wurden von einem schweren Unwetter überrascht und mussten sich im Gebüsch unterstellen. Danach kehrten sie über den völlig aufgeweichten Pfad auf direktem Wege nach Iquitos zurück.
Die Atahualpa legte am 6. Dezember 1910 in Richtung Manaus und Pará ab. Roger reiste erster, Omarino, Arédomi und die Barbadier dritter Klasse. Als das Schiff sich an dem klaren, warmen Morgen von Iquitos entfernte und die Menschen und Häuser immer kleiner wurden, fühlte Roger sich wieder befreit, als hätte er eine große Gefahr gebannt. Keine physische, sondern eine moralische Gefahr. Ihm schien, dass er, hätte er noch länger an diesem fürchterlichen Ort ausharren müssen, selber verroht wäre, einfach durch die Tatsache, weiß und Europäer zu sein. Der Gedanke daran, niemals wieder einen Fuß in diese Gegenden setzen zu müssen, munterte ihn jedenfalls auf.
Am Abend des 10. Dezember legte das Schiff in Manaus an. Roger hatte sich inzwischen etwas erholt und arbeitete wieder mit der alten Energie und Ausdauer. Die vierzehn Barbadier erwarteten sie in der Stadt. Die meisten hatten beschlossen, nicht nach Barbados zurückzukehren, sondern für die Madeira–Mamoré-Eisenbahn zu arbeiten. Die übrigen fuhren mit Roger weiter bis nach Pará, wo das Schiff am 14. Dezember einlief. Dort besorgte Roger den Barbadiern sowie Omarinound Arédomi eine Schiffspassage nach Barbados. Er gab die beiden Letzteren in Frederick Bishops Obhut, der sie in Bridgetown zu Reverend Frederick Smith bringen sollte, damit sie vor ihrer Weiterreise nach London bei den dortigen Jesuiten schon einmal auf die Schule gehen würden. Auf der Suche nach einem Schiff, das ihn nach Europa bringen würde, stieß er auf die SS Ambrose der Booth Line . Da sie erst am 17. Dezember in See stechen sollte, nutzte er die verbleibenden Tage, um sich an einige der Orte zu begeben, die er noch aus seiner Zeit als britischer Konsul in Pará kannte: Cafés, Restaurants, botanischer Garten, der riesige, bunte Markt am Hafen. Er verspürte keine Wehmut, dazu hatte er sich in Pará zu unwohl gefühlt, aber er genoss den Frohsinn der Menschen, den Anblick der hübschen Frauen und jungen Männer, die müßig auf der Uferpromenade schlenderten. Ihm fiel abermals auf, dass die Brasilianer ein gesundes, heiteres Verhältnis zu ihrem Körper hatten, sehr im Unterschied zu den Peruanern beispielsweise, die sich wie die Engländer in ihrer Haut stets unbehaglich zu fühlen schienen. Hier stellte sich hingegen jeder unbekümmert zur Schau, je jünger und ansehnlicher, desto mehr.
Am 17. Dezember legte die SS Ambrose mit Kurs auf den französischen Hafen Cherbourg ab, der in den letzten Dezembertagen erreicht werden sollte. Roger hatte vor, von Cherbourg aus mit dem Zug nach Paris zu fahren, um Silvester mit Herbert Ward und dessen Frau Sarita zu verbringen. Im neuen Jahr würde er nach London weiterreisen. Es würde ihm guttun, zwei Tage mit kultivierten Freunden zu verbringen, in ihrem prächtigen Atelier voller afrikanischer Skulpturen und Andenken, und sich über schöne Dinge zu unterhalten, über Kunst, Literatur, Theater und Musik, die
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