Der Traum des Kelten
der Boniface , einem unkomfortablen, überfüllten kleinen Schiff, auf dem es schlecht roch und das Essen ungenießbar war. Trotzdem wurde es dank des amerikanischen Arztes Herbert Spencer Dickey eine erträgliche Überfahrt. Dickey hatte für Aranas Gesellschaft in El Encanto gearbeitet, und er bestätigte nicht nur die Schreckensgeschichten, die Roger bereits kannte, sondern erzählte ihm etliche weitere Anekdoten aus seiner Zeit in Putumayo, manche grausam, andere komisch. Er erwies sich als ein sensibler, belesener Mann mit Abenteuergeist, der die halbe Welt bereist hatte. Es war ein Vergnügen, bei Sonnenuntergang mitihm an Deck zu sitzen, Whiskey aus der Flasche zu trinken und ein geistreiches Gespräch zu führen. Dickey befürwortete die Initiativen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten zur Verbesserung der Zustände im Amazonasgebiet. Doch grundsätzlich blieb er skeptisch, und fatalistisch prophezeite er, dass sich dort weder jetzt noch künftig irgendetwas ändern würde.
»Das Böse tragen wir in uns, mein Freund«, sagte er. »Das schütteln wir nicht so leicht ab. In Ländern wie den europäischen und meinem ist es nicht so deutlich sichtbar, tritt es nur in einem Krieg, bei einer Revolution oder einem Aufstand zutage. Das Böse bedarf eines Anlasses, um öffentlich und kollektiv zu werden. Im Amazonasgebiet dagegen kann es sich unverhüllt zeigen und die schrecklichsten Ausmaße annehmen, ohne sich durch Patriotismus oder Religion rechtfertigen zu müssen. Dort gibt es nur die reine Habgier. Das Gift des Bösen sitzt tief in unserer Brust.«
Doch unmittelbar auf solche düsteren Bekundungen konnte er einen Witz oder eine Anekdote erzählen, die alles zuvor Gesagte zu relativieren schienen. Roger unterhielt sich gern mit Dickey, auch wenn seine Schilderungen ihn manchmal bedrückten.
Die Boniface legte am Mittag des 10. September in Pará an. So deprimiert er sich dort als Konsul gefühlt hatte, dachte er nun bereits vor der Ankunft voller Verlangen an die Praça do Palacio. Nachts hatte er oft einen der jungen Männer aufgelesen, die dort zwischen den Bäumen herumstrichen, auf Kunden oder Abenteuer aus, in engen Hosen, in denen sich Hintern und Geschlechtsteile abzeichneten.
Er quartierte sich im Hotel do Comercio ein, und sein Körper wurde von dem alten Fieber ergriffen, das ihn in der Nähe dieses Platzes jedes Mal überkam. Er erinnerte sich – oder vermeinte er das nur? – an einige Namen, an Begegnungen, die stets in einem schäbigen Hotel in der Gegend oder manchmal auch in einer dunklen Parkecke endeten. Beim Gedanken an diese raschen Vereinigungen unter freiem Himmel pochte seinHerz stärker. Doch als er an diesem Abend dort herumwanderte, hatte er kein Glück, denn weder Marco noch Olympio noch Bebé (hieß er so?) tauchten auf, stattdessen wurde er beinahe von zwei Herumtreibern in Lumpen ausgeraubt, fast noch Kinder. Einer der Jungen fragte ihn nach dem Weg, während der andere ihm mit der Hand in die Hosentasche fuhr, auf der Suche nach einer nicht vorhandenen Geldbörse. Roger versetzte einem einen solchen Stoß, dass er zu Boden fiel, und trieb beide mit seiner Entschlossenheit in die Flucht. Wütend kehrte er ins Hotel zurück. Er tröstete sich mit einem Tagebucheintrag: »Praça do Palacio: dick, stählern. Atemlos. Bluttropfen in der Unterhose. Wohltuender Schmerz.«
Am nächsten Morgen suchte er den britischen Konsul und mehrere Europäer und Brasilianer auf, deren Bekanntschaft er bei früheren Aufenthalten gemacht hatte. Seine Nachforschungen trugen unmittelbar Früchte, es gelang ihm, zwei der Flüchtigen aus Putumayo zu lokalisieren. Der Konsul und der Chef der lokalen Polizei versicherten ihm, José Inocente Fonseca und Alfredo Montt hätten zunächst eine Zeit lang auf einer Plantage am Ufer des Yavarí gelebt und sich inzwischen in Manaus niedergelassen, wo das Haus Arana ihnen Arbeit als Zollkontrolleure im Hafen verschafft habe. Roger telegrafierte sofort an das Foreign Office, damit es bei den brasilianischen Behörden einen Haftbefehl gegen die zwei Kriminellen beantrage. Drei Tage später teilte ihm das britische Außenministerium mit, Petrópolis habe dem Gesuch entsprochen. Der Polizei in Manaus werde unverzüglich Anweisung erteilt, Montt und Fonseca festzunehmen. Sie würden jedoch nicht ausgeliefert, sondern in Brasilien vor Gericht gestellt werden.
Rogers zweite und dritte Nacht in Pará verliefen erfolgreicher als die erste. Am zweiten Abend bot
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