Der Traum des Kelten
körperliche Beschwerden wurden wieder schlimmer, er konnte sich kaum aufrecht halten, und noch sitzend krümmte er sich vor Schmerzen in Hüfte und Becken. Etliche Male dachte er, dass er dieses Land im Rollstuhl verlassen würde. Auch die Hämorrhoiden setzten ihm wieder zu, jederGang zur Toilette war eine Qual. Er fühlte sich geschwächt und müde, um zwanzig Jahre gealtert.
Während dieser Zeit war Pater Crotty seine einzige Rettung. Die Heiligen sind kein Mythos, es gibt sie wirklich, sagte sich Roger. Denn genau das war Pater Crotty. Nie beklagte er sich, die schlimmsten Umstände ertrug er lächelnd, er war stets gut gelaunt und optimistisch und der Überzeugung, dass es vieles gab, für das es sich zu leben lohnte.
Pater Crotty war nicht besonders groß, hatte spärliches graues Haar, ein rundes gerötetes Gesicht und helle, wache Augen. Er entstammte einer armen Bauernfamilie aus der Grafschaft Galway, und wenn er manchmal besonders froh gestimmt war, stimmte er gälische Wiegenlieder an, die seine Mutter ihm als Kind vorgesungen hatte. Als er erfuhr, dass Roger zwanzig Jahre in Afrika und beinahe ein Jahr im Amazonasgebiet gelebt hatte, erzählte er ihm, dass er seit dem Priesterseminar davon geträumt habe, als Missionar in ein fernes Land geschickt zu werden, der Dominikanerorden jedoch eine andere Bestimmung für ihn vorgesehen habe. Unter den Gefangenen war er ausgesprochen beliebt, weil er alle mit dem gleichen Respekt behandelte, ungeachtet ihrer Einstellung oder Konfession. Er hatte von Anfang an vorausgesehen, dass sich nur eine kleine Minderheit von Rogers Plänen überzeugen lassen würde, und so nahm er eine strikt unparteiische Haltung ein, sprach sich weder für noch gegen die Irische Brigade aus. »Alle, die hier sind, haben zu leiden und sind Kinder Gottes, also unsere Brüder, oder etwa nicht?«, fragte er Roger. In den langen Unterhaltungen, die sie führten, ging es selten um Politik. Über Irland sprachen sie hingegen viel, über seine Geschichte, Sagenhelden, Heiligen und Märtyrer. Allerdings waren die Iren, von denen Pater Crotty sprach, vor allem leiderprobte Arbeiter, die sich von morgens bis abends abrackerten und von der Hand in den Mund lebten, oder solche, die nach Amerika, Südafrika oder Australien hatten auswandern müssen, um nicht des Hungers zu sterben.
Eines Tages kam Roger schließlich auf die Religion zu sprechen. Pater Crotty war auch in dieser Hinsicht äußerst diskret und hatte es seinerseits vermieden, dieses konfliktreiche Thema anzuschneiden. Doch als Roger ihm von seiner spirituellen Not erzählte und ihm anvertraute, dass er sich immer stärker vom Katholizismus angezogen fühlte, dem Glauben seiner Mutter, ließ sich der Dominikanermönch bereitwillig darauf ein und beantwortete geduldig Rogers Fragen. Einmal bat Roger ihn ganz direkt um seine Meinung: »Glauben Sie, dass es richtig ist, was ich hier tue, Pater Crotty, oder sitze ich einem großen Irrtum auf?« Der Priester sagte ernst: »Ich weiß es nicht, Roger. Ich möchte Sie nicht belügen. Ich weiß es schlichtweg nicht.«
Auch jetzt, Anfang Dezember 1914, wusste Roger es noch nicht, als er sich nach einem ersten Rundgang durch das Lager von Limburg, in Begleitung der deutschen Generäle De Graaf und Exner, endlich an die mehreren hundert irischen Gefangenen richten konnte. Nein, die Wirklichkeit entsprach nicht seinen Vorstellungen. Er sollte sich später immer wieder verbittert seine Einfalt vorwerfen, wenn er sich an die verunsicherten, argwöhnischen, feindseligen Mienen der Gefangenen erinnerte, vor denen er inbrünstig über Irland, die Irische Brigade und die gemeinsame Mission gesprochen hatte. Wenn er sich an die vereinzelten Hochrufe auf John Redmond erinnerte, von denen er unterbrochen wurde, an das missbilligende, beinahe bedrohliche Raunen und die Grabesstille, die eintrat, als er geendet hatte. Und an die Erniedrigung, die es bedeutete, als er anschließend von deutschen Wachen hinausbegleitet werden musste, um Übergriffe und eine Eskalation der Situation zu vermeiden, auf die es eine Mehrheit der Gefangenen, ob sie seine Worte nun richtig verstanden hatten oder nicht, offenbar angelegt hatte.
Zu einer Eskalation kam es dafür bei Rogers zweitem Besuch in Limburg am 5. Januar 1915. Als er diesmal vor ihnen sprach, begnügten sich die Gefangenen nicht mehr damit, durch Mimik und abfällige Gesten Ablehnung zu demonstrieren.Sie pfiffen ihn aus und beschimpften ihn. »Wie viel hat
Weitere Kostenlose Bücher