Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
Vom Netzwerk:
die Anwesenheit der Eingeborenen gegeben, trotzdemhatte er den Eindruck, dass seine Männer die sieben verstümmelten Gestalten, mit denen sie sich nicht verständigen konnten, argwöhnisch beobachteten. Auf der Höhe von Irebu legte die Henry Reed an der französischen Uferseite des Kongos an, und während die Besatzung schlief, schlüpften lautlos sieben Schatten vom Schiff und verschwanden im Dickicht der Böschung. Niemand fragte den Konsul später, was aus ihnen geworden war.
    Ab diesem Zeitpunkt der Reise fühlte Roger sich zunehmend unwohl. Der Schlafmangel machte ihm zu schaffen, die vielen Insektenstiche, die übermäßigen Strapazen, vor allem aber seine seelische Verfassung, sein Schwanken zwischen Mutlosigkeit und Wut. Es drängte ihn, seine Aufgabe zu erfüllen, und gleichzeitig ahnte er, dass auch sein Bericht wirkungslos bleiben würde, weil die Bürokraten des Foreign Office in London und die Politiker im Dienste des Königs einen Bericht mit so harten Anklagen als riskant für Großbritannien erachten würden, da er Belgien dazu bringen könnte, sich auf die Seite Deutschlands zu stellen. Waren die Interessen des Landes etwa nicht wichtiger als die Wehklagen ein paar halbnackter Menschenfresser, die Raubkatzen und Schlangen anbeteten?
    Mit schier übermenschlicher Anstrengung überwand Roger seine Niedergeschlagenheit, die Kopfschmerzen, Übelkeitsanfälle, seine körperliche Schwäche – er hatte neue Löcher in seinen Gürtel stanzen müssen, so sehr hatte er abgenommen  –, besuchte weiter Dörfer, Militärposten, Stationen, befragte Einwohner, Beamte, Angestellte, Wächter, Kautschuksammler und tat sein Bestes, um den täglichen Anblick von ausgepeitschten Körpern, abgehackten Händen und die albtraumhaften Berichte über die Erpressungen, Verhaftungen, Morde und die verschwundenen Menschen zu verwinden. Irgendwann kam es ihm vor, als wäre selbst die Luft erfüllt vom Leid der Kongolesen, die Flüsse und das Pflanzendickicht mit seinem pestilenzartigen Geruch, der nicht nur dem Körper zusetzte, sondern auch den Geist angriff.
    »Ich glaube, ich bin im Begriff, den Verstand zu verlieren,liebe Gee«, schrieb er an seine Cousine Gertrude von der Station Bongandanga an dem Tag, als er beschloss, umzudrehen und nach Léopoldville zurückzukehren. »Heute habe ich die Rückfahrt nach Boma angetreten. Laut Plan hätte ich noch zwei weitere Wochen am Oberlauf des Kongos bleiben müssen. Doch tatsächlich habe ich mehr als genug Material, um in meinem Bericht zu zeigen, was hier vor sich geht. Ich befürchte, würde ich weiter den Auswüchsen menschlicher Bosheit und Ignoranz auf den Grund gehen, wäre ich nicht einmal mehr in der Lage, meinen Bericht überhaupt abzufassen. Ich befinde mich am Rand des Wahnsinns. Ein normaler Mensch kann sich nicht so viele Monate in diese Hölle begeben, ohne verrückt zu werden. In manchen schlaflosen Nächten spüre ich, dass es bereits beginnt, etwas sich in mir zersetzt. Ich lebe in unaufhörlicher Angst. Wenn ich weiter aus nächster Nähe verfolge, was hier geschieht, werde ich selbst irgendwann mit der Chicotte Schläge austeilen, Hände abschneiden und zwischen Mittag- und Abendessen Kongolesen ermorden, ohne dass es mein Gewissen im Geringsten belasten oder mir den Appetit rauben würde. Denn eben so ergeht es den Europäern in diesem verfluchten Land.«
    Trotz allem handelte dieser lange Brief nicht in erster Linie vom Kongo, sondern von Irland. »So ist es, liebe Gee, Du wirst es als ein weiteres Zeichen des Wahnsinns betrachten, aber diese Reise in die Tiefen des Kongos hat mir geholfen, mein eigenes Land zu entdecken. Seine Situation, sein Schicksal, seine Wirklichkeit zu verstehen. In diesem Urwald hier habe ich nicht nur das wahre Gesicht von Leopold II. erblickt. Ich habe auch mein wahres Ich gefunden: den unverbesserlichen Iren. Du wirst überrascht sein, wenn wir uns wiedersehen, Gee. Du wirst Deinen Cousin Roger nur mit Mühe wiedererkennen. Ich habe das Gefühl, nach Art mancher Schlangen meine alte Haut abgelegt zu haben, meine alte Geistesverfassung und vielleicht sogar meine alte Seele.«
    Und so war es. Während der mehrtätigen Fahrt auf dem Kongo flussabwärts bis nach Léopoldville, wo die HenryReed schließlich am 15. September 1903 anlegte, wechselte der Konsul kaum ein Wort mit der Besatzung. Er hielt sich in seiner engen Kabine auf oder lag, wenn das Wetter es erlaubte, achtern in einer Hängematte, der getreue John wachsam und still

Weitere Kostenlose Bücher