Der Traum des Kelten
Roger sich einige der Artikel Morels. Beeindruckt von der Schärfe seiner Anklagen, ließ Roger ihm in einem etwas waghalsigen Unterfangen durch Gee einen Brief übermitteln. Darin schrieb er, er lebe seit vielen Jahren in Afrika und könne ihm Informationen aus erster Hand für seine wichtige Kampagne zukommen lassen, mit der er sich solidarisch fühle. Er könne dies als britischer Diplomat nicht offen tun, deshalb sei es nötig, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, damit er nicht als Informant in Boma identifiziert werden könne. In dem Brief, den Roger aus Luanda schrieb, fasste er seine Erfahrungen zusammen und kündigte an, er werde sich mit ihm in Verbindung setzen, sobald er in Europa angekommen sei. Nichts freue ihn mehr, als den einzigen Europäer persönlich kennenzulernen, der sich tatsächlich bewusst sei, welche Verantwortung der Alte Kontinent dafür trage, dass der Kongo sich in eine Hölle verwandelt habe.
Auf der Überfahrt gewann Roger seinen Elan, seinen Enthusiasmus und seine Hoffnung zurück. Er gelangte wieder zu der Überzeugung, dass sein Bericht dazu beitragen würde, diesen Gräueln ein Ende zu bereiten. Die Ungeduld, mit der das Foreign Office ihn erwartete, deutete jedenfalls daraufhin. Die Tatsachen selbst waren so ungeheuerlich, dass die britische Regierung handeln, radikale Veränderungen fordern, ihre Verbündeten dazu bringen müsste, diese wahnwitzige Konzession eines halben Kontinents an Leopold II. rückgängig zu machen. Ungeachtet der Stürme, die zwischen São Tomé und Lissabon über der Zaire aufzogen und die halbe Besatzung seekrank machten, schrieb Roger weiter an seinem Bericht. Mit gewohnter Disziplin und einem geradezu apostolischen Eifer bemühte er sich, so genau und objektiv wie möglich, alles festzuhalten, was er zweifelsfrei in Erfahrung hatte bringen können. Je knapper und präziser sein Bericht wäre, desto überzeugender und wirkungsvoller würde er sein.
An einem eisigen, regnerischen 1. Dezember kam er in London an. Er hatte keine Zeit, sich in der Stadt umzutun, denn kaum hatte er das Gepäck in seiner Wohnung in Philbeach Gardens abgestellt und einen raschen Blick auf die Korrespondenz geworfen, die sich während seiner Abwesenheit angesammelt hatte, musste er auch schon ins Foreign Office eilen. Drei Tage lang folgte ein Arbeitsgespräch auf das andere. Er war beeindruckt. Der Kongo war seit jener Parlamentsdebatte ein zentrales Thema. Die Vorwürfe seitens der baptistischen Kirche und Morels Kampagne hatten für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Eine Stellungnahme der Regierung wurde gefordert. Und die Regierung benötigte dafür Rogers Bericht. Er war somit ohne sein Zutun, ganz allein durch die Umstände, zu einer wichtigen Figur geworden. Im Zuge seiner Vorträge vor Beamten des Ministeriums – an denen auch der Verantwortliche für afrikanische Angelegenheiten und der stellvertretende Minister teilnahmen – wurde er sich der Wirkung seiner Worte bewusst. Die Zuhörer folgten seinen Ausführungen zunächst mit ungläubigen Mienen, später, wenn er mit weiteren Einzelheiten auf Fragen antwortete, zeichneten sich Abscheu und Schrecken in den Gesichtern ab.
Man teilte ihm ein ruhiges Büro in Kensington sowie einen fleißigen jungen Stenotypisten namens Joe Pardo zu. Am 4. Dezember begann Roger, seinen Text zu diktieren. Es warbekannt geworden, dass der britische Konsul im Kongo mit einem ausführlichen Bericht über die Kolonie in London eingetroffen war, und es gab Interview-Anfragen von der Nachrichtenagentur Reuters, vom Spectator , von The Times und von mehreren amerikanischen Korrespondenten. In Absprache mit seinen Vorgesetzten erklärte Roger jedoch, er werde erst mit der Presse reden, wenn die Regierung sich zu dem Thema geäußert hätte.
In den folgenden Tagen arbeitete er unermüdlich, ergänzte, kürzte und überarbeitete den Text, las ein ums andere Mal die Reiseaufzeichnungen in seinen Notizbüchern, die er inzwischen fast auswendig kannte. Mittags begnügte er sich mit einem Sandwich, abends aß er früh im Wellington, seinem Club. Bisweilen schloss sich ihm dort Herbert Ward an. Die Gespräche mit seinem alten Freund taten ihm gut. Einmal nahm Ward ihn mit in sein Atelier am Chester Square und brachte ihn auf andere Gedanken, indem er ihm seine afrikanisch inspirierten Skulpturen zeigte. Ein andermal unterbrach Herbert seine Arbeitswut für ein paar Stunden und drängte Roger, eine der gerade modernen karierten Tweedjacken zu erstehen, dazu
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