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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Karten, nahm keine Einladungen zu Mittag- oder Abendessen an und lud seinerseits niemanden ein. Er ging nicht einmal frühmorgens im Fluss schwimmen, wie er es früher selbst bei schlechtem Wetter täglich getan hatte. Er wollte niemanden sehen, nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Er wollte vor allem nicht über seine Reise befragt werden und sich gezwungen sehen, die Unwahrheit zu sagen. Ihm war bewusst, dass er seinen Freunden und Bekannten in Boma niemals anvertrauen könnte, wie sich das, was er die letzten vierzehn Wochen am Mittel- und Oberlauf des Kongos gesehen, gehört, erlebt hatte, auf ihn ausgewirkt hatte. Er widmete sich den dringlichsten Konsulatsangelegenheiten und traf Vorbereitungen für die Reise nach Cabinda und Luanda. Er hoffte, dass sich außerhalb des Kongos, und sei es auch in einer anderen Kolonie, die Beklemmung legen, er sich freier fühlen würde. Mehrmals versuchte er sich an einem ersten Entwurf für den Bericht, doch er brachte nichts zustande. Nicht nur seine Niedergeschlagenheit hinderte ihn – kaum griff er zur Feder, wurde seine rechte Hand von einem Krampf erfasst. Auch die Hämorrhoiden machten ihm wieder zu schaffen. Er nahm kaum etwas zu sich, und besorgt über seinen Zustand, drängten ihn seine beiden Dienstboten Charlie und Mawuku, einen Arzt zu rufen. Doch obwohl die Schlafstörungen, die Appetitlosigkeit und die Schwächeanfälle auch ihm selbst Sorgen bereiteten, ließ Roger Doktor Salabert nicht kommen, denn dashätte bedeutet, erzählen zu müssen, was er im Augenblick nur vergessen wollte.
    Am 28. September bestieg er, begleitet von Charlie – die Bulldoge John war bei Mawuku geblieben –, ein Schiff nach Banana, von wo aus ein weiteres kleines Dampfschiff sie am nächsten Tag nach Cabinda brachte. Doch nicht einmal während seines viertägigen Aufenthalts in dieser Stadt, wo er abends bei Bekannten aß, die nichts von seiner Reise an den Oberlauf des Kongos wussten und ihn somit in keine Gespräche darüber verwickeln konnten, fand er zur Ruhe. Erst in Luanda, wo er am 3. Oktober eintraf, wurde es besser. Der englische Konsul Briskley, ein unaufdringlicher, zuvorkommender Mann, stellte ihm ein kleines Arbeitszimmer im Konsulat zur Verfügung. Er begann endlich, den Entwurf für seinen Bericht auszuarbeiten, und jeden Vormittag und Nachmittag saß er dort und schrieb.
    Doch einigermaßen wiederhergestellt fühlte er sich erst drei oder vier Tage nach der Ankunft in Luanda. Er saß zur Mittagszeit im Café Paris und blätterte in einer alten portugiesischen Zeitung, als er auf der Straße mehrere halbnackte Afrikaner bemerkte, die dicke Bündel von einem großen Karren luden, vermutlich Baumwolle. Der jüngste unter ihnen war prachtvoll anzusehen. Er war groß und hatte einen athletischen Körper. Seine dunkle Haut glänzte vor Schweiß. Während er mit der Last auf den muskulösen Schultern zwischen Karren und Lager hin- und herlief, verrutschte der schmale Stoffstreifen, den er um die Hüften trug, und entblößte sein ungewöhnlich großes Glied. Roger spürte eine heiße Wallung in sich aufsteigen und das dringende Bedürfnis, den stattlichen Träger zu fotografieren. Das war ihm seit Monaten nicht passiert. Plötzlich beschwingt, dachte er: ›Ich bin wieder ich selbst.‹ Er atmete tief durch. In dem kleinen Tagebuch, das er stets bei sich trug, notierte er später: »Wunderschön, enorm. Ich bin ihm gefolgt und habe ihn überzeugt. Wir haben uns im Schutz der Farne eines Brachlands geküsst. Er wurde mein, ich sein. Ich habe aufgeheult.«
    Am selben Nachmittag übergab Mr. Briskley ihm ein Telegramm vom Foreign Office. Der Lordkanzler persönlich ordnete seine sofortige Rückkehr nach England an, er solle in London seinen Kongo-Bericht abschließen. Rogers Appetit kehrte zurück, an diesem Abend speiste er ausgiebig.
    Bevor er die Zaire bestieg, die am 6. November von Luanda über Lissabon nach England in See stach, schrieb er einen langen Brief an Edmund D. Morel. Seit sechs Monaten unterhielten sie eine Korrespondenz. Persönlich kannte er Morel noch nicht. Durch einen Brief von Herbert Ward, der große Stücke auf den Journalisten hielt, hatte Roger erstmals von ihm erfahren, und später in Boma hatten belgische Funktionäre und Durchreisende die kritischen Artikel erwähnt, in denen der in Liverpool lebende Morel die Zustände des Kongo-Freistaats und die Übergriffe auf die Eingeborenen anprangerte. Mit Hilfe seiner Cousine Gertrude verschaffte

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