Der Traum des Kelten
zu seinen Füßen, als habe die Bedrückung seines Herrn auch ihn erfasst.
Einzig die Gedanken an das Land seiner Kindheit und Jugend, nach dem ihn im Laufe dieser Reise plötzlich eine tiefe Sehnsucht überkommen hatte, konnten die Bilder des kongolesischen Grauens verdrängen. Er erinnerte sich an seine ersten Jahre in Dublin, liebevoll umsorgt von seiner Mutter, an die Schuljahre in Ballymena und die Besuche im Spukschloss von Galgorm, die Wanderungen mit seiner Schwester Nina durch die Gegend nördlich von Antrim (so lieblich im Vergleich zur afrikanischen!) und wie glücklich ihn die Ausflüge auf die windumtosten Höhen entlang seines liebsten glen Glenshesk gemacht hatten, von denen aus man Adler mit breiten Schwingen und aufgestelltem Kamm stolz durch die Lüfte ziehen sah.
War nicht auch Irland eine Kolonie wie der Kongo? So viele Jahre hatte er sich dieser Wahrheit nicht gestellt, die sein Vater und zahllose Iren aus Ulster empört geleugnet hätten. Warum sollte gut für Irland sein, was schlecht für den Kongo war? Hatten die Engländer Éire etwa nicht okkupiert? Hatten sie es nicht gewaltsam dem Königtum einverleibt, genau wie die Belgier ihrem den Kongo? Mit der Zeit hatte die Gewalt nachgelassen, aber Irland war nach wie vor eine Kolonie, deren Selbstbestimmung ein stärkerer Nachbar aufgehoben hatte. Das war eine Realität, die viele Iren nicht sehen wollten. Was hätte sein Vater von solchen Überlegungen gehalten? Hätte er seine kleine Chicotte hervorgeholt? Und seine Mutter? Hätte es Anne Jephson schockiert, dass ihr Sohn in der Abgeschiedenheit des Kongos zwar nicht mit Taten, aber doch in Gedanken zum Nationalisten geworden war? An jenen einsamen Nachmittagen auf den braunen Gewässern des Kongos, in denen Blätter, Äste und Baumstämme trieben, fasste Roger einenEntschluss: Sobald er zurück in Europa wäre, würde er sich Bücher zur irischen Geschichte und Kultur besorgen, die er so schlecht kannte.
Er blieb kaum drei Tage in Léopoldville, ohne jemanden aufzusuchen. In seiner Verfassung war es ihm unvorstellbar, über das, was er in den vergangenen Monaten gesehen hatte, zu reden und dabei lügen zu müssen. Er telegrafierte verschlüsselt an das Foreign Office, er verfüge über ausreichend Material, um die Anzeigen wegen Misshandlungen der Eingeborenen zu untermauern. Er bat um Erlaubnis, sich in benachbartes portugiesisches Gebiet begeben zu dürfen, um seinen Bericht in aller Ruhe schreiben zu können. Und er erstattete bei der Staatsanwaltschaft des Höchsten Gerichtshofs in Léopoldville Anzeige wegen der Vorfälle in Walla, was angesichts der Ausführlichkeit des Dokuments einem offiziellen Protest gleichkam, und forderte eine Untersuchung und Sanktionen gegen die Verantwortlichen. Er gab das Schriftstück persönlich in der Staatsanwaltschaft ab. Ein reservierter Beamter versprach ihm, den Staatsanwalt Maître Leverville über alles in Kenntnis zu setzen, sobald dieser von der Elefantenjagd zurück sei, auf der er sich mit dem Chef des Handelsregisters, Monsieur Clothard, begeben habe.
Roger nahm die Eisenbahn nach Matadi, wo er eine Nacht verbrachte. Von dort fuhr er auf einem kleinen Frachtdampfer bis nach Boma. Im Konsulatsbüro fand er einen Stapel Briefe und ein Telegramm seiner Vorgesetzten vor, das ihm die Erlaubnis erteilte, zur Anfertigung seines Berichts nach Luanda zu reisen. Allerdings müsse er ihn so schnell und detailgetreu wie möglich verfassen. In England lief die Kampagne gegen den Kongo-Freistaat auf Hochtouren, die großen Zeitungen bezogen Position, indem sie die »Gräuel« bestätigten oder negierten. Ähnliche Vorwürfe wie die der baptistischen Kirche wurden seit langem von Rogers heimlichem Freund und Verbündeten Edmund D. Morel vorgebracht. Dessen Artikel sorgten im Unterhaus und in der Öffentlichkeit für Aufruhr. Im Parlament hatte es bereits eine Debatte zu dem Themagegeben. Das Foreign Office und Lordkanzler Lansdowne höchstpersönlich erwarteten ungeduldig Roger Casements Augenzeugenbericht.
Auch in Boma vermied Roger nach Möglichkeit den Kontakt zu Regierungsvertretern, auf die Gefahr hin, gegen das Protokoll zu verstoßen, was in all den Jahren seiner Konsulatstätigkeit nicht vorgekommen war. Statt vorschriftsmäßig beim Generalgouverneur vorzusprechen, schickte er ihm einen Brief, in dem er gesundheitliche Beschwerden vorschützte, die ihn von einem persönlichen Besuch abhielten. Er spielte keine einzige Partie Tennis, Billard oder
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