Der Traum des Kelten
hat. Das darf man nicht außer Acht lassen, meine Herren. Putumayo ist nicht England. Es ist eine abgelegene, isolierte Welt voller Heiden, die ihre Kinder im Fluss ertränken, wenn sie als Zwillinge oder mit Missbildungen auf die Welt kommen. Julio C. Arana war ein Pionier, er hat Schiffe, Medizin, die katholische Religion und die spanische Sprache dorthin gebracht. Übergriffe müssen natürlich bestraft werden. Aber vergessen Sie nicht, es ist eine Gegend, die allerhand Begehrlichkeiten weckt. Kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor, dass Señor Hardenburg alle peruanischen Kautschukunternehmer als Ungeheuer, die kolumbianischen hingegen als Wohltäter darstellt? Ich habe die Artikel in der Zeitschrift Truth gelesen. Fiel Ihnen das nicht auf? Ist es ein Zufall, dass die Kolumbianer einen so entschiedenen Fürsprecher wie Señor Hardenburg haben? Sie erinnern sich, dass er, bevor er nach Peru kam, für die kolumbianische Cauca-Eisenbahngesellschaft gearbeitet hat. Könnte er nicht vielleicht ein Agent sein?«
Ermattet hielt der Präfekt inne und trank einen Schluck Bier. Er musterte die Kommissionsmitglieder mit einem Blick, der zu besagen schien: »Ein Punkt für mich, nicht wahr?«
»Auspeitschungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen, Morde«, sagte Henry Fielgald. »Das nennen Sie zivilisiertes Leben, Herr Präfekt? Nicht nur Hardenburg hat davon berichtet. Auch Ihr Landsmann Saldaña Roca. Drei Aufseher aus Barbados, die wir heute Vormittag befragt haben, bestätigendiese Ungeheuerlichkeiten. Sie geben zu, sie selbst begangen zu haben.«
»Dann müssen sie bestraft werden«, sagte der Präfekt. »Und das wäre längst geschehen, wenn es in Putumayo Richter, Polizei und eine Obrigkeit gäbe. Aber dort herrscht die reine Barbarei. Ich nehme niemanden in Schutz. Reisen Sie hin. Sehen Sie es sich mit eigenen Augen an. Fällen Sie Ihre eigenen Urteile. Meine Regierung hätte Ihnen die Einreise nach Peru verbieten können, denn wir sind ein unabhängiges Land und Großbritannien hat kein Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Stattdessen habe ich Anweisung erhalten, Ihnen alle Wege zu ebnen. Präsident Leguía ist ein großer Bewunderer Englands, meine Herren. Er würde sich wünschen, dass Peru einmal ein so großartiges Land würde wie das Ihre. Deshalb sind Sie hier. Sie haben alle Freiheit, den Dingen auf den Grund zu gehen.«
Ein Platzregen brach aus. Das Licht flackerte, und das Wasser trommelte so heftig auf das Zinkdach, dass man fürchtete, es könnte jeden Moment einstürzen. Rey Lama machte jetzt ein melancholisches Gesicht.
»Ich habe eine Frau und vier Kinder, die ich anbete«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. »Seit einem Jahr habe ich sie nicht gesehen, und weiß Gott, ob ich sie je wiedersehen werde. Aber als Präsident Leguía mich gebeten hat, meinem Land in diesem abgelegenen Winkel der Erde zu dienen, habe ich keinen Augenblick gezögert. Ich bin nicht hier, um Verbrecher zu verteidigen, meine Herren. Ganz im Gegenteil. Ich bitte Sie nur zu bedenken, dass es nicht das Gleiche ist, in England oder im Herzen des Amazonasgebietes ein Handelsunternehmen aufzubauen. Sollte in diesem Urwald jemals ein europäischer Lebensstandard erreicht werden, dann wird das Männern wie Julio C. Arana zu verdanken sein.«
Sie unterhielten sich lange mit dem Präfekten. Er beantwortete alle ihre Fragen, manche Antworten schienen ausweichend, andere schonungslos direkt. Roger gelang es bis zum Schluss nicht, aus ihm schlau zu werden. Bisweilen wirkte derPräfekt wie ein zynischer Schauspieler, dann wieder wie ein integrer Mann mit erdrückender Verantwortung, der er nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden versuchte. Nur eines war sicher: Rey Lama wusste von den Gräueltaten und sie missfielen ihm, doch seine offizielle Aufgabe bestand auch darin, sie, so gut es ginge, herunterzuspielen.
Als sie sich von dem Präfekten verabschiedeten, hatte es zu regnen aufgehört. Von den Dächern tropfte es noch auf die Straße, in großen Pfützen hüpften Frösche, Bremsen und Stechfliegen stürzten auf die Delegation nieder. Mit gesenkten Köpfen stapften sie schweigend zum Sitz der Peruvian Amazon Company , wo der Geschäftsführer Pablo Zumaeta sie zur letzten Unterredung des Tages erwartete. Sie waren einige Minuten zu früh und umrundeten einmal die große leere Fläche der Plaza de Armas. Interessiert sahen sie das Gerüst des Eiffel-Hauses an, dessen Eisengestänge sich unter dem dunklen
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