Der Traum des Kelten
im Kreis und erwarteten die Delegation. Der Himmel war wolkenlos, es war kein Regen zu befürchten. Doch weder das gute Wetter noch der idyllische Anblick des Igaraparaná, der mäandernd durch die dicht bewaldete Ebene floss, konnten Roger erheitern. Er wusste, dass sie einem deprimierenden Spektakel beiwohnen würden. Knapp vier Dutzend Indios – die männlichen sehr alt oder noch Kinder, die weiblichen ziemlich jung – bildeten einen Kreis und tanzten nackt oder mit den Cushma genanntenknöchellangen Überwürfen bekleidet, wie auch viele Eingeborene in Iquitos sie trugen, zu den Klängen der Manquaré -Trommeln, die aus hohlen Baumstämmen gefertigt waren und denen die Huitotos mit hölzernen, an den Enden mit Kautschuknoppen versehenen Schlegeln lange raue Töne entlockten. Diese Trommeln konnten offenbar über weite Entfernungen hinweg Nachrichten übermitteln. Die Tanzenden trugen Rasseln aus Samenkörnern um die Fesseln und um die Oberarme, die im Rhythmus ihrer Sprünge scharrten. Dazu summten sie monotone Melodien, aus denen eine Bitterkeit klang, die zu ihren ernsten, barschen, ängstlichen oder gleichgültigen Gesichtern passte.
Später fragte Roger seine Gefährten, ob ihnen aufgefallen sei, wie viele Indios Narben auf Rücken, Hinterteilen und Schenkeln gehabt hätten. Rogers Einschätzung nach wiesen mindestens achtzig Prozent der Huitotos Narben auf, Fielgald und Folk meinten, es seien nicht mehr als sechzig Prozent. Doch alle stimmten darin überein, dass der Anblick eines spindeldürren kleinen Jungen besonders schrecklich gewesen sei, der am ganzen Körper und stellenweise auch im Gesicht Brandmale aufwies. Sie baten Frederick Bishop nachzuforschen, ob diese Wunden auf einen Unfall oder Bestrafung und Folter zurückzuführen waren.
Sie hatten sich vorgenommen, in dieser Station das Ausbeutungssystem in allen Einzelheiten zu studieren. Am nächsten Morgen gingen sie an die Arbeit. Fidel Velarde selbst führte sie nach dem Frühstück in ein Kautschuklager, wo sie durch Zufall feststellten, dass die Waagen falsch geeicht waren. Seymour Bell kam auf die Idee, sich zu wiegen, da er als alter Hypochonder überzeugt war, an Gewicht verloren zu haben. Und wie groß war sein Schreck, als er feststellte, dass er ganze zehn Kilo abgenommen hatte! Wie war das möglich! Das hätte er doch merken müssen, ihm müssten doch die Hosen herunterrutschen und die Hemden viel zu groß sein. Darauf wog Roger sich ebenfalls und bat die anderen Kommissionsmitglieder und Juan Tizón, es ihnen nachzutun. Alle warenweit unter ihrem Normalgewicht. Während des Mittagessens fragte Roger Tizón, ob seiner Meinung nach alle Waagen der Peruvian Amazon Company in Putumayo falsch geeicht seien, um so die Indios zu betrügen. Tizón, der längst nicht mehr in der Lage war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, sagte achselzuckend: »Ich weiß es nicht, meine Herren. Ich weiß nur, dass hier alles möglich ist.«
Anders als in La Chorrera stand der Fußblock in Occidente nicht in einem Schuppen, sondern mitten auf dem Hauptplatz, an dem sich die Unterkünfte und Lagerhallen befanden. Roger bat die Gehilfen von Fidel Velarde, ihn in das Foltergerät einzusperren. Er wollte wissen, wie es sich anfühlte, in diesem Kasten zu hocken. Rodríguez und Acosta zögerten, doch als Juan Tizón ihnen die Erlaubnis erteilte, bedeuteten sie Roger, sich zusammenzukrümmen und schoben ihn zwischen die Bretter. Der Fußblock ließ sich nicht anlegen, da die Löcher für Fesseln und Handgelenke zu klein für seine Gelenke waren, die stattdessen zusammengebunden wurden. Der Halsring ging dafür zu, erstickte ihn zwar nicht, machte ihm das Atmen jedoch beinahe unmöglich. Ein stechender Schmerz durchzog seinen ganzen Körper, und es erschien ihm unvorstellbar, dass ein menschliches Wesen es stundenlang in dieser Position aushalten sollte, mit einem derartigen Druck auf Hals, Rücken, Brust, Magen, Armen und Beinen. Nachdem er sich aus dem Kasten gekämpft hatte, musste er sich eine Weile auf Louis Barnes’ Schulter abstützen, ehe er sich wieder richtig bewegen konnte.
»Für welche Übertretungen sperren Sie die Indios in den Fußblock?«, fragte er abends den Vorsteher von Occidente.
Fidel Velarde war ein pummeliger Mestize mit buschigem Seelöwenbart und großen Glupschaugen. Er trug einen Strohhut, hohe Stiefel und einen Gürtel mit Patronenschlaufen.
»Bei sehr schweren Vergehen«, sagte er, jedes Wort abwägend. »Wenn sie ihre Kinder
Weitere Kostenlose Bücher