Der Traum des Kelten
umbringen, ihre Frauen im Suff böse zurichten oder stehlen und nicht gestehen wollen, wo siedas Gestohlene versteckt haben. Der Fußblock kommt nicht oft zum Einsatz. Im Allgemeinen benehmen die Indios sich hier gut.«
Er sagte das in einem belustigten Tonfall und ließ dabei einen herablassenden Blick über die Kommissionsmitglieder schweifen, der zu besagen schien: ›Ich sehe mich gezwungen, diese Dinge zu sagen, aber bitte glauben Sie mir kein Wort.‹ Seine Haltung war so selbstherrlich und menschenverachtend, dass Roger sich lebhaft vorstellen konnte, welche lähmende Angst dieser brutale Zeitgenosse mit der umgeschnallten Pistole, dem Patronengürtel und dem Gewehr über der Schulter den Indios einflößte.
Kurz darauf sagte einer der fünf Barbadier von Occidente vor der Kommission aus, er sei Zeuge gewesen, wie Fidel Velarde und Alfredo Montt, der damalige Vorsteher der Station Último Retiro, in einer durchzechten Nacht darum gewettet hätten, wer einem in den Fußblock gesperrten Huitoto schneller und sauberer das Ohr abschneiden könnte. Velarde trennte dem Eingeborenen das Ohr mit einem Machetenhieb ab, aber Montt war so restlos betrunken, dass seine Hände zitterten und er dem Indio nicht das andere Ohr abhieb, sondern den Schädel spaltete. Nach dieser Anhörung gingen Seymour Bells Nerven mit ihm durch. Er gestand seinen Gefährten, er halte es nicht mehr aus. Ihm versagte die Stimme, seine Augen waren vom Weinen gerötet. Er habe genug gesehen und gehört, um sich davon zu überzeugen, dass hier die barbarischsten Zustände herrschten. Es habe keinerlei Sinn, die Untersuchung in dieser unmenschlichen, von Psychopathen bevölkerten Welt fortzuführen. Er schlage deshalb vor, die Reise abzubrechen und umgehend nach England zurückzukehren.
Roger erwiderte, er würde sich einer Abreise der anderen nicht entgegenstellen, er selbst werde jedoch nach dem ursprünglichen Plan in Putumayo bleiben und weitere Stationen besichtigen. Er wolle einen sorgfältig dokumentierten Bericht erstellen, um eine möglichst durchschlagende Wirkung zu erzielen. Er rief ihnen in Erinnerung, dass all diese Verbrechenvon einem britischen Unternehmen begangen wurden, zu dessen Vorstand höchst respektvolle englische Persönlichkeiten gehörten, und dass die Aktionäre der Peruvian Amazon Company sich vermittels dessen, was hier geschehe, die Taschen füllten. Man müsse diesem Skandal ein Ende bereiten und die Verantwortlichen bestrafen. Um dies zu erreichen, müsse ein umfassender, hieb- und stichfester Bericht vorgelegt werden. Es gelang ihm, die anderen zu überzeugen, den entmutigten Seymour Bell eingeschlossen.
Um die schlimmen Eindrücke abzuschütteln, beschlossen sie, sich einen Tag freizunehmen. So fuhren sie am nächsten Morgen nicht mit den Anhörungen und Nachforschungen fort, sondern gingen zum Schwimmen an den Fluss. Mehrere Stunden brachten sie mit Schmetterlingfangen zu, Walter Folk suchte den Wald nach Orchideen ab. Schmetterlinge und Orchideen waren in dieser Region so zahlreich vorhanden wie Mosquitos und Fledermäuse, die nachts auf ihren lautlosen Flügen Hunde, Hühner und Pferde bissen und dabei manchmal die Tollwut übertrugen, so dass die angesteckten Tiere getötet und verbrannt werden mussten, um eine Epidemie zu verhindern.
Sie waren wie verzaubert von der Artenvielfalt, der Größe und Schönheit der in Flussnähe herumflatternden Schmetterlinge. Es gab sie in allen Farben und Formen, und ihr sanfter Flügelschlag und die Lichtreflexe, die sie hervorbrachten, wenn sie sich auf eine Blume oder ein Blatt setzten, durchzogen die Luft mit zarten Schattierungen und entschädigten sie momentweise für alles Hässliche und Schändliche, das ihnen in diesem Land auf Schritt und Tritt begegnete.
Walter Folk war verblüfft über die unzähligen Orchideen, die von den hohen Bäumen hingen und mit erlesenen Tönungen ihre Umgebung erleuchteten. Er schnitt keine ab und erlaubte es auch seinen Gefährten nicht. Lange betrachtete er einzelne durch ein Vergrößerungsglas, machte sich Notizen und fotografierte sie.
In Occidente bekam Roger eine ziemlich genaue Vorstellungvom Funktionsmechanismus der Peruvian Amazon Company . Möglicherweise hatte es anfangs eine Art Abkommen zwischen den Kautschukleuten und den Stämmen gegeben, aber inzwischen wollten die Eingeborenen nicht mehr freiwillig in den Urwald gehen, um Kautschuk zu sammeln. Deshalb wurden jetzt die Treibjagden veranstaltet. Es wurden keine
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