Der Traum des Satyrs
stillschweigender Zustimmung den Kopf. »Bleiben.«
»
Grazie,
Bruder!«, rief Vincent noch über die Schulter, als er das Arbeitszimmer verließ. »Anthony. Landon.« Mit diesem kurzen Abschiedsgruß schlüpfte er zur Tür hinaus und machte sich auf den Weg zum Portal.
Marco folgte ihm bis zu den Stufen des Eingangs und hielt ihn am Arm fest.
»Sie stellt eine Gefahr für dich dar«, warnte er, »für uns alle. Wenn du zurück bist, musst du unbedingt einen Weg finden, um sie loszuwerden!«
Hinter ihnen stand die Nebelnymphe am Fenster des Arbeitszimmers und lauschte diesen Worten, die durch die Entfernung und das Fensterglas für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar gewesen wären. Sie drückte eine Hand gegen die Scheibe und sah Vincent nach, wie er den Hof überquerte.
»Gefahr«, flüsterte sie. »Loswerden.«
5
Anderwelt
Nur Minuten später erreichte Vincent das Zentrum des alten Waldes im Herzen der riesigen Ländereien von Gut Satyr. Dort schlüpfte er durch das geheime Tor, welches die Erdenwelt mit der Anderwelt verband, und folgte dem Weg durch den nebelverhangenen Tunnel, bis er nach etwa fünfzig Fuß ins Halbdunkel hinaustrat. Während in seiner Welt gerade der Morgen dämmerte, brach hier soeben die Nacht herein.
Sein Bruder Julius, der ernsthafteste der Drillinge, stand am anderen Ende und erwartete ihn. Als er Vincent bemerkte, sah er überaus erleichtert drein, was ihn allerdings nicht daran hinderte, seinem älteren Bruder mit einem Bündel sorgfältig zusammengehefteter Dokumente gereizt einen Klaps gegen die Brust zu versetzen.
»Du kommst spät!«, äußerte er anstelle einer Begrüßung.
»Unvermeidlich.«
»Ich bin heute Abend durch Gebiete gereist, die vom Krieg verwüstet waren, und habe es dennoch geschafft, rechtzeitig hier zu sein«, murrte Julius. »Denk nur nicht, ich hätte nicht gespürt, was du letzte Nacht getrieben hast! Und jetzt sind wir beide gezwungen, am wichtigsten Verhandlungstag überhaupt zu spät zu erscheinen.«
Vincent trat etwas zurück, um die Dokumente zu lesen, die er zur Begrüßung erhalten hatte. »Die Sache ist komplizierter, als du denkst, aber dazu später. Was ist das hier alles?«
»Das Übliche: Meinungsverschiedenheiten über endgültige Besitzansprüche auf fruchtbare Ländereien, Hafenstädte und Weinberge. Kleinliches Gefeilsche darum, wo Grenzen neu gezogen werden sollen, und um den Zehnt, den wir aus unseren Weinkellern in der Erdenwelt entrichten.«
»Zweihunderttausend Fässer des besten Jahrgangs, den es gibt, sind wohl kaum eine Kleinigkeit«, meinte Vincent und blätterte die erste Seite um.
»Signores Vincenzo und Julius! Willkommen, willkommen!«, wurden sie von einem Bewahrer begrüßt, dessen Aufgabe darin bestand, sicherzustellen, dass sie den Versammlungsort wohlbehalten erreichten. Außer diesem älteren Mann würde niemand sie begleiten, denn man ging davon aus, dass keiner es wagen würde, sie anzugreifen, solange sie unter dem Schutz einer solch heiligen und verehrten Persönlichkeit standen.
Mit einem Wink seiner knorrigen Hände bedeutete der Bewahrer ihnen, weiterzugehen. »Es ist mir in der Tat eine Ehre und ein Vergnügen. Hier entlang, bitte! Ja, genau, diesen Weg hier«, dirigierte er die beiden Brüder auf eine Truppe Uniformierter zu, die offenbar zum Militärpersonal gehörten.
»Ist das als eine Art offizieller Empfang gedacht?«, fragte Vincent mit einem Blick auf die Uniformen. Es waren mindestens fünfzig Mann, die sich wie eine undurchdringliche Mauer hier postiert hatten und den Weg zu ihrem Ziel blockierten.
»Das sind Inspektoren«, lautete die Antwort.
»Warum so viele? Und warum so schwer bewaffnet?« Julius fuhr sich mit zwei Fingern über den schwarzen Schnurrbart, den er sich seit letztem Monat hatte wachsen lassen. Er sah besorgt aus.
»Bitte fühlt Euch dadurch nicht beleidigt«, bat der Bewahrer ihn, der Julius’ Unbehagen spürte. »Besondere Vorsichtsmaßnahmen sind notwendig. Jeder, der hier durchkommt, muss durchsucht werden. Es hat Drohungen gegeben, müsst Ihr wissen.«
»Welcher Art?«, erkundigte Julius sich.
»Drohungen gegen Euer Leben und gegen das der Anführer, die sich auf dieser Seite des Tores mit Euch treffen wollen. Einige in unserer Welt können sich mit Veränderungen nicht abfinden.«
Vincent beendete die Diskussion mit einer Bewegung seiner Hand. »Wir sind spät, du erinnerst dich? Und es wird schon dunkel in dieser Welt. Also lassen wir sie tun, was sie tun
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