Der Traum des Satyrs
Emma wusste kaum noch, was sie tat, als sie aufstand und auf das Portal zuging. Wie es schien, hatte sie keine andere Wahl, als es zu riskieren.
Das Dröhnen wurde ohrenbetäubend, je näher sie kam. Unmittelbar vor dem Portal hielt sie inne, denn mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie ja nicht erwarten konnte, dass Dominic auf der anderen Seite bereitstand und auf sie wartete. Falls das Durchqueren des Portals sie außer Gefecht setzte oder gar tötete, wer würde dann für Rose sprechen? Falls jemand sie fand, würde er eine Anweisung brauchen, was mit ihr geschehen sollte.
Also drehte sie sich wieder um und tastete an den Wänden der Höhle entlang, auf der Suche nach etwas, das man als Schreibinstrument verwenden konnte. Ein Stück Fels brach ab. Es war kreidig wie Holzkohle.
Sie setzte ihre Tochter auf dem Altar ab und strich die Oberfläche der kleinen Decke glatt. Während sie versuchte, das Zittern ihrer Hand zu unterdrücken, so dass ihre Nachricht lesbar würde, schrieb sie die kürzestmögliche Anweisung auf die weiche Wolldecke:
An Dominic Janus Satyr.
Die letzten paar Buchstaben passten kaum noch darauf und waren kleiner als die vorherigen. »Oh, Götter! Warum muss sein Name auch so verflixt lang sein!«, jammerte sie und hoffte, dass man ihn trotzdem noch gut lesen könnte.
Als sie Rose wieder einwickelte, reagierte diese nicht mehr. Sie hatte sich zu einem kleinen Ball eingerollt und war still wie der Tod.
Ein paar Meter von ihnen entfernt summte das Portal in wütender Abweisung wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Emma hatte keine Ahnung, was sie auf der anderen Seite erwartete. Doch es war keine Zeit mehr, um ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Irgendwie wusste sie, dass Dominic Rose mit seinem Leben schützen würde. Falls er sie fand. Und falls er wusste, wie sie zu retten war.
Sie musste es versuchen. Selbst wenn das bedeutete, dass sie selbst bei dem Übergang ihr Leben lassen musste.
Sie drückte Rose einen Kuss auf das bleiche Gesichtchen und tat zwölf Schritte. Der dreizehnte führte sie durch das Tor.
23
Anderwelt
Der Augenblick, den Emma brauchte, um durch das Tor zu treten, bereitete ihr Höllenqualen. Es war, als würden Insekten in der Magie des Portals schwirren, die nun auf jeden Zoll ihrer Haut einstachen – so als hätten sie beschlossen, Emma dafür zu bestrafen, dass sie nichts weiter als ein Mensch war.
Auf der anderen Seite angekommen, stolperte sie und fiel auf die Knie. Ihr Magen verkrampfte sich, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Schützend hielt sie Rose an sich gedrückt, als sie zur Seite sackte. Ihr Ellbogen schrammte über den Kiesboden, und der Geruch von Lehmerde drang schwer in ihre Lungen. Kalte Erde lag unter ihrer Wange.
Sie war am Leben.
Stöhnend rollte sie sich in Embryonalstellung zusammen und neigte ihren Kopf, um einen Blick auf Rose zu werfen. War das nur ihre Einbildung, oder sah die Kleine bereits gesünder aus?
»Bitte, lass es so sein!«, flüsterte sie und schaukelte sie sanft hin und her.
Ein fremdartiger, erstickender Nebel umgab sie beide, doch er schien nur Emma zu quälen, nicht ihr Kind. Orientierungslos schnupperte sie und bemerkte, dass er denselben leicht metallischen Geruch besaß, der Carlo immer umgeben hatte, wenn er vom Krieg nach Hause gekommen war.
Die Anderwelt. Sie hatte es geschafft. Gerade so.
Wie in Trance legte sie sich Rose in eine Armbeuge und versuchte, auf die Beine zu kommen. Diese fühlten sich allerdings so weich an wie gekochte Nudeln, und sofort knickte sie ein und fiel auf den festgetretenen Boden zurück.
»Dominic«, wisperte sie.
Irgendwann später wachte sie auf, als ein roter Lichtblitz erschien. Und noch einer. Sie stammten von Kreaturen, die sich in dem dunklen Tunnel um sie herum versammelt hatten. Ihre Augen waren blutrot wie Rubine. Eines der Wesen beugte sich näher zu Emma, und sie schlug nach ihm in dem Glauben, es versuchte, sie zu küssen. Doch stattdessen schnupperte der Kerl nur an ihrem Nacken.
»Aufhören!« Sie stieß ihn von sich, doch einige andere schnupperten nun ebenfalls an ihrem Körper entlang, und ihre Nasen bohrten sich wie Fingerspitzen in ihre Haut.
Rose begann zu weinen und lenkte damit die Aufmerksamkeit der Wesen auf sich. Schaurige Klauenhände hoben das Mädchen in die Höhe, um es näher zu untersuchen. Als die Kreaturen die silberne Handfläche entdeckten, kamen aufgeregte groteske Laute wie ein Rascheln von ihren Lippen, in einer Sprache, die
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