Der Traum des Satyrs
manipulieren. Und Kurr den Schlüssel entwenden.
Ein furchtbarer Schrei erklang von irgendwo im Tempel, und Emma sprang mit Rose in den Armen von der Pritsche auf. Ihr Herz pochte. Die Dienerin. Sie wurde angegriffen.
Sie stürzte aus der Zelle und fand ohne viel Mühe die riesigen Bronzetüren am Eingang des Tempels, doch sie schienen ein unüberwindliches Hindernis zu sein. Mit Rose auf einem Arm versuchte sie, mit der anderen Hand den riesigen Türgriff zu betätigen. Der jedoch hielt ihren kläglichen Bemühungen mit Leichtigkeit stand.
Das Geräusch knackender Knochen und zerfetzenden Fleisches hallte von den Tempelwänden wider und ließ Emmas Finger zittern. Sie setzte Rose zu ihren Füßen ab und presste beide Handflächen auf den Türgriff, konzentrierte sich und versuchte verzweifelt, jedes Quentchen Magie, das sie besaß, zu aktivieren. Lange schreckliche Momente später sah sie erstaunt zu, wie sich der Griff bewegte und die Tür aufging. Sie schnappte sich Rose und lief eilig aus dem Tempel.
Wie man ihr erzählt hatte, hing westlich von ihr in der Ferne eine Aura von Magie in der Luft und zeigte die Lage des Portals an. Sie konnte niemanden sehen, doch überall um sie herum herrschte ein Durcheinander von Geräuschen. Dämonen.
Sie eilte die Stufen hinab und rannte in Richtung Sicherheit. Nach Hause.
Eine halbe Stunde später überkam sie ein weiterer Hustenanfall, und sie streckte ihre Hand aus, um an einem Baumstamm Halt zu finden. Rose weinte, und Emma fühlte sich erschöpft und krank. Sie war kaum noch in der Lage, Luft zu holen. Wären da nicht das Kind gewesen, das sie in ihren Armen trug, und das Kind in ihrem Leib – sie hätte hier und jetzt aufgegeben. Während sie beruhigende Worte an Rose richtete, zwang sie sich, aufzustehen, und ging weiter.
Irgendwann später, als sie sich dem Tor näherte, ließ ein weiterer Hustenanfall sie in die Knie sinken. Doch diesmal zog sie damit unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich. Dutzende Dämonen, die nahe dem Eingang des Portals versammelt waren, wandten sich nun ihr zu, Gesicht und Oberkörper noch mit dem Blut ihrer unglücklichen Opfer bespritzt.
Sie kamen näher, verfolgten, umzingelten sie. Klauen zerrten an ihrem Mieder, zerrissen ihre Röcke. Griffen nach Rose.
»Nein!«, heulte Emma auf und hielt ihr Kind an sich gedrückt, so gut sie konnte. Und wusste dabei, dass sie verloren hatte. Dass sie Rose im Stich gelassen hatte. Dass sie ihre Familie nie wiedersehen würde. Oder Dominic.
»Dominic.«
Und plötzlich, wie in einem Traum, begann sich alles vor ihren Augen, zu verändern!
Sie und Rose wurden losgelassen. Die Dämonen sahen orientierungslos aus, sie fingen an, zu zucken und zu stöhnen. Ihre Bewegungen wurden immer unkoordinierter, und sie stolperten und taumelten gegeneinander, bevor sie schließlich auf die Knie fielen.
Emma, die ihr Glück kaum fassen konnte, drückte Rose eng an sich und floh. Das Portal verschwamm vor ihren Augen. Es war direkt vor ihr, nur noch etwa dreißig Meter entfernt.
Hinter ihr krümmten sich die Dämonen, nun Gespenstern gleich, auf dem Boden. Und dann – erst zwei, dann fünf, dann zu Dutzenden – zerfielen sie zu nichts, und das Böse verschwand, als wäre es nie da gewesen.
Irgendwie schaffte sie es, die Höhle, die sie suchte, zu erreichen, sich durch den Tunnel und schließlich durch das Tor selbst zu schleppen. Die Magie peinigte sie wie beim ersten Mal, doch diesmal war sie zu krank, um es zu registrieren.
Und dann befand sie sich auf der anderen Seite, und sie und Rose fielen direkt in Dominics Arme.
Und sie atmete die frische, reine und lebenspendende Luft ihrer eigenen Welt ein.
»Ich habe sie!«, rief Dominic Nicholas und Lyon zu. Eigentlich erwartete er nicht, dass die Brüder Emma und Rose seiner Obhut überlassen würden, deshalb war er überrascht, als die beiden nur nickten und weitergingen, durch das Tor, um die Lage der Dinge in der Anderwelt zu untersuchen.
Die Ketten, die er trug, und diverse Begegnungen mit Dämonen hatten ihn langsamer gemacht, und es hatte viel zu lange gedauert, das Portal zu erreichen. Die Dienstboten hatten die Familie über Roses Krankheit informiert, und Emma war nirgends zu finden gewesen. Daraus hatte die Familie geschlossen, dass sie Dominic in der Anderwelt aufgesucht haben musste.
So kam es, dass sich bei seiner Ankunft bereits zwei der Brüder in der Höhle befanden und gerade durch das Tor gehen wollten, um nach Emma zu suchen,
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