Der Traum des Schattens
Vermutlich hielt er auch Mattim für einen Schatten, denn auf einen Wink hin ließ er das Tablett forträumen.
» Wie ich Euch beim Ball bereits sagte, habe ich so etwas vermutet«, meinte er gepresst. » Als Ihr mit dem König hier wart… dass er Euch Jaschbiniad vorgeführt hat, als Euren zukünftigen Besitz. Ich kann Euch nur anflehen, wie schon mein Großvater und mein Vater es vor mir getan haben: Verwandelt uns nicht, bitte. Wir sind ein Teil des Königreichs, wir kennen unsere Pflichten… auch dem Schattenkönig gegenüber. Nur lasst uns unsere Art zu leben.«
Anscheinend wusste er nicht, dass man dazu einen Schattenwolf brauchte. Oder fürchtete er, dass er und sein Volk in Wölfe verwandelt werden sollten? Als wenn Kunun eine Stadt voller Wölfe gebraucht hätte.
Mirontschek deutete ihr Schweigen falsch. » Auch wenn wir nicht mehr viel Zeit haben… ich bin bereit zu verhandeln. Um jeden Tag und jede Nacht.«
» Was meint Ihr damit, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt?«, fragte Mattim.
Der Fürst starrte ihn an, als hätte er ihn zwischendurch vergessen. Dann stand er auf und zog einen Vorhang beiseite, den Hanna für einen Teil der Wand gehalten hatte. Dahinter verbarg sich eine grandiose Aussicht auf die Schlucht. Sie sahen die Brücke, die durch die Wolken hindurchführte, den fernen Rand auf der anderen Seite und den Himmel, der düster ein Gewitter versprach.
» Von Tag zu Tag wird es dunkler«, klagte der junge Herrscher. » Uns ist durchaus bewusst, was das bedeutet. Dennoch sind wir bereit, jede Stunde im Licht zu erkaufen. Wir möchten nicht verwandelt werden. Ich will Euch da gar nichts vormachen, sondern sage es deutlich und mit aller Klarheit. Wenn Ihr es mir garantiert, könnte ich einen Vertrag aushandeln, der mein Volk mit Eurer Anwesenheit versöhnt. Da der Preis nun einmal bezahlt werden muss… dann werde ich es tun.«
» Ich verstehe nicht ganz, wovon Ihr redet«, sagte Hanna, während Mattim sich vorbeugte und auf die Schlucht spähte.
» Das ist doch nicht…«, murmelte er.
» Mir ist bewusst, dass Ihr nur über diese Stadt herrschen könnt, wenn ich tot bin«, sagte Mirontschek. » Das Duell auf der Brücke ist Prinz Kunun vorbehalten, aber da er jetzt der König ist und kein Prinz mehr, hat er offenbar Euch damit beauftragt.«
» Ich soll mit Euch auf der Brücke kämpfen?«, fragte Hanna entsetzt. » Ich habe nicht die Absicht!«
» Wollt Ihr mir die einzige Möglichkeit nehmen, ehrenvoll abzutreten?« Mirontschek runzelte die Stirn; sein Zorn schwelte dicht unter der Oberfläche.
» Oh nein!«, stöhnte Mattim, der auf die Brücke starrte. » Sie ist es wirklich. Sie kommt uns nach!«
Hanna eilte neben ihn an das Panoramafenster. Es war eindeutig die Königin, die gerade aus den Wolken aufgetaucht war und auf die Stadt zuhielt.
Hanna fühlte den Schrecken wie einen Schlag in die Magengrube. » Auf den letzten Metern sind keine Bretter mehr! Ihr müsst etwas tun, Fürst Mirontschek! Schnell!«
Sein Gesicht blieb kühl und unbeweglich. » Nur, wenn Ihr mir ein Duell versprecht.«
» Aber ich kann unmöglich…«
» Ja oder nein?«
Was sollte sie antworten? Sie konnte doch nicht mit dem Schwert gegen ihn antreten! » Ja«, rief sie, » ein Duell, meinetwegen. Nur tut endlich etwas!«
Mattim beugte sich über das Sims. » Sie wird mich nicht hören, wenn ich rufe, der Wind ist zu stark.«
» Die Strickleiter!«, rief Hanna. » Führt sie von der Wachstube hier hinauf? Letztes Mal ist einer der Wächter daran hochgeklettert.«
» Zu diesem Raum gibt es keine Strickleiter.« Mirontschek eilte davon, aber Mattim, der den Blick nicht von seiner Mutter wandte, schüttelte sorgenvoll den Kopf. » Sie werden zu spät kommen.«
Elira ging über die Brücke, ohne sich um den Wind und das Schaukeln zu kümmern. Rasch näherte sie sich der Stadtseite, wo auf den letzten Metern die Bretter fehlten und jeder weitere Schritt ins Verderben führte.
» Nein!«, schrie Mattim. » Warte! Hilfe ist unterwegs!« Der Wind trieb seine Worte fort.
Hanna legte ihm die Hände auf die Schultern. » Sieh nicht hin. Es tut mir leid, aber… komm da weg. Bitte schau nicht hin.«
Er rührte sich nicht. Inzwischen hatte die Königin die schadhafte Stelle erreicht. Sie zögerte, dann setzte sie den Fuß auf das untere Seil. So wie Hanna und Mattim zuvor überwand sie die Gefahr, indem sie sich auf den Seilen vorwärtstastete, und erreichte den Felsvorsprung, wo die Wächter sie in Empfang
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