Der Traum des Schattens
weggerissen wurde. Noch während die Bretter davonwirbelten und in der Tiefe verschwanden, gab es einen zweiten Ruck, und sie hing mit der Rechten am Seil. Mattims Gewicht riss ihr fast den linken Arm aus. Er klammerte sich an sie; einen schrecklichen Augenblick lang hing sie am Seil und er an ihr. Ihrer beider Leben lag buchstäblich in ihrer Hand. Doch schon griff er an ihr vorbei nach dem unteren Seil, auf dem die Bretter gelegen hatten, und hangelte sich hinauf. » Komm, setz die Füße hier drauf. Halt dich am oberen Seil fest und stell dich auf das untere.«
Er klang sehr ruhig und gefasst, während Hanna sich bemühte, ihrer Panik Herr zu werden. Sie wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, abzustürzen und in die bodenlose Tiefe zu fallen.
» Nimm die linke Hand und stütz erst die Knie auf. Die Seile schwanken, aber sie halten. Das ist eine gute Brücke. Los, Hanna, beweg dich.«
Er sprach zu ihr wie zu einem verschreckten Tier, beruhigend und bestimmt zugleich, und das half ihr tatsächlich. Also konzentrierte sie sich darauf, seine Anweisungen zu befolgen. Vielleicht wäre sie mit schwitzenden Händen längst abgerutscht, doch sie war ein Schatten. Sie unterdrückte sämtliche Regungen ihrer Angst und bewegte sich seitwärts auf den rettenden Felsenvorsprung zu, Mattim nach. Schritt für Schritt lotste er sie voran, bis er schließlich auf den Felsendurchgang kletterte, ihr die Hand reichte und sie auf sicheren Boden zog.
Ihr menschlicher Körper hätte gezittert, das wusste sie. Sie spürte das Beben in ihren Beinen ebenso wie den Schmerz in beiden Armen, dann streifte sie beides ab. » Verdammt, wie können sie es wagen!«, rief sie.
Die Wachen hatten sie beobachtet, denn während die beiden Besucher sich unter dem Felsbogen hindurchwagten und sich auf einer gewundenen Straße wiederfanden, tauchten sie vor ihnen auf, die Gesichter kühl und ohne jedes Bedauern.
» Prinzessin«, sagte einer und verbeugte sich, die Arme vor der Brust gekreuzt.
Nachdem der erste Mordanschlag missglückt war, erwartete Hanna einen zweiten, doch offenbar verlangte es den Wächtern Respekt ab, dass sie die Attacke überlebt hatten, denn der Sprecher bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
» Der Fürst erwartet Euch.«
» Das will ich sehen, wie er uns erwartet«, meinte sie trocken. Jetzt, nachdem das Schlimmste überstanden war, fühlte sie die Wut in sich brodeln, eine heiße Wut, die wie ein schwelendes Feuer in ihrem Rachen glomm. Sie war bereit, jemanden für den ausgestandenen Schrecken bezahlen zu lassen.
Mattim drückte ihre Hand. » Lass mich reden«, flüsterte er.
Sie war nicht gewillt, sich danach zu richten. Man kannte sie hier. Sie hatte mit dem Fürsten getanzt– und er wollte sie in die Schlucht stürzen? Ihre Wut steigerte sich, während sie dem Wächter die gewundene Straße bis zu der Höhle folgten, in der Mirontschek residierte.
Staunend blickte Mattim sich um, Hanna dagegen hielt auf den bezopften jungen Mann zu, der ihnen am Eingang der Höhle entgegentrat. Er verbeugte sich nach Landessitte.
» Prinzessin Hanna.« Sein Gesicht verriet keinerlei Schuldbewusstsein. » Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise.«
20
JASCHBINIAD, MAGYRIA
» Wir sind mit allen Widrigkeiten problemlos fertiggeworden«, sagte Hanna.
Der Lichtschein tanzte über die gleißenden Wände, trotzdem merkte sie, dass der Fürst blass war und die Zähne zusammenbiss.
» Bitte sehr«, meinte er mühsam. » Darf ich Euch eine Erfrischung anbieten? Euch und Eurem… Begleiter?«
Sie wollte Mattim schon vorstellen, als ihr einfiel, dass er nicht als Kununs Bruder auftreten wollte. Also sollte er sich gefälligst selbst einen Namen oder eine Bezeichnung für sich ausdenken. Aber er blieb stumm, und so führte Mirontschek nach kurzem Zögern beide Gäste zu einem in den Fels gehauenen Halbkreis, auf dem Polster bereitlagen. Die Sitzgelegenheit war weitaus bequemer, als sie aussah.
Ein Tablett mit drei Gläsern stand schon bereit.
» Er ist ein Feind«, raunte Mattim ihr zu. » Ich rate dir davon ab, etwas zu trinken.«
Der junge Fürst setzte sich in angemessener Entfernung hin. Ein Kaminfeuer warf zuckende Schatten über sein Gesicht. An seiner Schläfe pochte eine Ader, und Hanna schloss daraus, dass er mindestens so zornig war wie sie, auch wenn er noch so höflich tat.
» Danke«, sagte sie. » Ich muss nicht trinken, wie Ihr wisst.«
Mirontschek zuckte zurück, als sie ihn auf diese Weise daran erinnerte, was sie war.
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