Der Traum des Schattens
weißen, bloßen Arme, sondern hielt still, obwohl sie alles war, wonach ihn verlangte. Sie beugte sich vor, küsste ihn auf die Stirn und sagte: › Nimm teil an meiner Seele.‹ So erhielt der Wolf einen Teil ihrer Seele und wurde ein Mensch. Damit endet die Geschichte.«
» Es ist ein Märchen, oder?«, fragte Hanna.
» Die Geschichte ist alt, uralt«, wisperte Elira. » Wo ist die Mitte? Wo sind die Stunden, wenn die Wölfe in den Wäldern umherstreifen und die Kinder des Lichts sich nach ihnen sehnen? Alles wiederholt sich. Alles geschieht wieder und wieder. Der König des Lichts versank in den Schatten. Die Königin ging mit ihrem Boot in den Fluten unter.« Sie beachtete Hannas wildes Kopfschütteln nicht. » Wer ist der neue König des Lichts? Wird es Mattim sein, der goldene Prinz, mit einem Umhang aus Sonnenstrahlen?«
Da war etwas, im Dunkeln. Es war kurz vor der Morgendämmerung, ein kühler Wind strich über die Hänge. Der Bach rauschte mit unvermittelter Lautstärke, trotzdem schien auf einmal alles stiller zu sein, als hielte die Welt den Atem an.
Elira war an einem großen Stein zusammengesunken und schlief, den Kopf auf den Händen, Mattim schnarchte leise, nur die Pferde waren hellwach.
Vorsichtig stand Hanna auf und lauschte. Das ungute Gefühl ließ sich nicht abschütteln. Ein Angriff? Hatte Kunun erraten, was sie vorhatte, und ihr eine Handvoll Krieger nachgeschickt? Etwas… schnüffelte. Nein, das waren garantiert keine Schattensoldaten. Etwas kratzte über den Steinen. Erwartungsvoll spähten die Pferde zum Bach hinüber.
Eine Gestalt bewegte sich in der Dunkelheit, schwärzer als die Nacht.
Hanna atmete nicht. Als sie zu den beiden Grauen hinüberschlich, war sie darum bemüht, kein Geräusch zu machen. So leise wie möglich löste sie die Knoten der Anbindestricke.
Das fremde Wesen sprang durch den Bach, wobei Wasser aufspritzte, und war überraschend schnell bei ihnen. Elira schrak hoch, doch im nächsten Moment waren die Pferde schon da und griffen an. Ein unmenschliches Gebrüll zerriss die Stille. Hufe ruderten durch die Luft, überall gebleckte Zähne, Krallen, Schreie. Hanna bückte sich nach Mattims Schwert und sprang mitten ins Getümmel. Sie hieb nach der Kreatur, die gerade die Krallen in der Brust eines Pferdes versenkte. Das zottige schwarze Tier brüllte und wandte sich ihr zu, und in diesem Moment erkannte sie erst, wie groß es war.
Auf einmal war Mattim hinter ihr. Er nahm ihr das Schwert aus der Hand und drosch damit auf die Bestie ein. Ein Schlag, ein zweiter. Da drehte sich eins der Pferde um und schmetterte das fremde Wesen mit den Hinterhufen zurück in den Bach. Dort lag es, ein gewaltiger, schwarzer Haufen, der nur noch ein paar Mal zuckte. Die Pferde schnupperten, kamen näher und senkten schließlich die Köpfe. Mit überraschend langen Zähnen rissen sie an dem blutigen Fleisch.
Hanna fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und fühlte eine tiefe Furche neben ihrem Ohr. Sie starrte ungläubig auf ihre roten Fingerspitzen. » Oh Gott, was war das?«
» Ein Bär, glaube ich«, sagte Mattim müde. Dann bemerkte er die Wunde in ihrem Gesicht. » Du bist ja verletzt!«, fuhr er sie schroff an. » Beim Licht, warum hast du mich nicht gleich geweckt? Was fällt dir ein, auf so ein Untier loszugehen?«
» Du hast so schön geschlafen«, gab sie zurück. » Und ich brauche keinen Schlaf.«
» Aber dein Gesicht! Verdammt, Hanna, du musst besser auf dich aufpassen!«
Hanna verstand nicht ganz, warum er sich so aufregte. Der Bär war tot, die Pferde fraßen, seiner Mutter war nichts passiert. » Und wenn schon. Ich bin ein Schatten, mich bringt so leicht nichts um.«
Mattim wusch sein blutiges Schwert im Bach. » Jede Narbe bleibt, das weißt du doch. Dein Gesicht…«
Es berührte sie seltsam, dass er sich so sehr um ihr Gesicht sorgte.
» Es wird Kunun nichts ausmachen«, meinte sie kühl. » Genauso wenig wie mir seine Narben etwas ausmachen.«
» Glaubst du?«, fragte er, und da war etwas in seiner Stimme, das über Spott weit hinausging.
» Die Sonne geht auf«, sagte sie. » Reiten wir weiter. Elira?«
Die Königin war wach und betrachtete die beiden versonnen. » Habt ihr ein Kind?«, fragte sie. » Ein Lichtkind? Habt ihr es nach Magyria gebracht? Die Sonne geht auf, endlich.«
» Die Sonne geht auf, weil wir hier außerhalb von Akink sind«, erklärte Mattim. » Und was das Lichtkind betrifft… daran könnten wir arbeiten.«
Hanna lachte. Nach
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