Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
fern«, flüsterte sie. Sie wartete jetzt ziemlich dringend auf den Kuss.
    » Wir sollten das nicht tun«, sagte er. » Danach wirst du es bereuen, und dann gehst du zu Kunun und wirst versuchen, es wiedergutzumachen, und den Gedanken daran kann ich nicht ertragen.«
    Du solltest nicht merken, wie anfällig ich für diesen traurigen Blick bin und dass dein Zorn mich jedes Mal trifft wie ein Pfeil.
    » Habe ich nicht recht?«, fragte er, und verdammt, er hatte recht. Sie würde es bereuen. Sie würde versuchen, es bei Kunun irgendwie wiedergutzumachen. Aber wenn sie ihn nicht küsste, war sie verloren.
    » Ich bin ein Schatten«, sagte sie. » Ich kann tun und lassen, was ich will, oder?« Sie reckte sich, bis seine Bartstoppeln an ihrer Wange kratzten. Seine Lippen waren weich, wunderbar weich– jedenfalls was sie davon fühlen konnte, im Bruchteil einer Sekunde, bevor er sich zurückzog.
    » Du musst dich entscheiden, Hanna«, flüsterte er. » Du kannst nicht uns beide haben, Kunun und mich.«
    Ihr blieb nichts als die Erinnerung an eine hauchzarte Berührung seines Mundes auf ihren Lippen.
    In Kununs Zimmer war es dunkel. Hanna brauchte eine Weile, um sich daran zu gewöhnen, denn überall in den Gängen hatten Lampen gebrannt.
    » Bist du da?«
    Er antwortete nicht, aber sie konnte spüren, dass sie nicht allein war. Auf leisen Sohlen trat sie auf ihn zu, tastete nach ihm, der nicht atmete, fand ihn in seinem Lieblingssessel, reglos wie eine Statue. Kunun zog sie auf seinen Schoß und barg das Gesicht an ihrer Brust. Hanna hielt ihn fest, grub die Finger in sein Haar. Warum saß er hier im Dunkeln, nicht wie ein König, sondern wie ein Gefangener der Finsternis? Aber hatte sie ein Recht darauf, seine Geschichte einzufordern, wenn sie selbst alles, was sie bewegte, für sich behielt? Keine Geheimnisse, dachte sie. Er verdient mehr, als dass ich an seiner Seite ein heimliches Leben führe.
    In diesem Raum war nichts von Hoffnung zu spüren, nur Stille und Finsternis, wie im Auge eines schwarzen Sturms. Sie fühlte sich, als würde sie darin versinken, in den Fluten des Flusses, inmitten der kalten Strömung…
    Jemand pochte an die Tür. Hanna seufzte und erhob sich von seinen Knien.
    » Was ist?«, fragte Kunun scharf.
    » Verzeiht die Störung.« Es war einer der Wächter, sie erkannte ihn an der Stimme. Rubian hatte sie nach Jaschbiniad begleitet. » Majestät«, rief er, » die Pferde!«
    » Was ist mit ihnen?«
    » Sie brechen aus, einige haben bereits das Umland erreicht, und ein Teil der Herde galoppiert kopflos durch die Straßen!«
    » Dann fangt sie ein!« Kunun klang ungeduldig. Er war daran gewöhnt, dass seine Leute mit solchen Problemen allein fertigwurden.
    » Nicht die normalen Pferde, die sind im Stall. Die Schattenpferde!«
    Sofort war Kunun auf den Beinen. » Verdammt!«, rief er aus. » Dann brauchen wir die Wölfe, um sie zusammenzutreiben. Ruf meine Wachen, wir dürfen keine Zeit verlieren.« Er wandte sich an Hanna, die ihm folgen wollte. » Nicht, mein Schatz«, sagte er. » Dies wird ein blutiger Tag. Die Tiere sind unberechenbar, und auch für unsereins sind sie extrem gefährlich. Sie werden alles niedermähen, was sich ihnen in den Weg stellt.«
    Von seiner sonstigen Gelassenheit war nichts mehr vorhanden, als er hinter Rubian durch die Gänge rannte.
    Mattim rechnete damit, dass es nicht leicht werden würde, aber eine Katastrophe dieses Ausmaßes konnte er nicht vorhersehen. Sein Plan sah vor, den Koppelzaun an einer Stelle zu zerstören und ein halbes Dutzend Pferde erst nach draußen und dann am Flussufer entlangzutreiben. Nach und nach wollte er sie mit dem Lasso einfangen und irgendwo festbinden, bis er sie mit dem Anhänger abholen und in Budapest über den Fluss bringen konnte. Doch die Tiere reagierten völlig anders als erwartet. Sie erkannten die Chance auf Freiheit sofort, und von einem Augenblick auf den nächsten versuchten sie durch die Lücke nach draußen zu gelangen. Sie fingen an, den Zaun mit den Hufen zu bearbeiten, bis unter den wuchtigen Schlägen das Holz zersplitterte. Einige andere, von der allgemeinen Aufbruchsstimmung angesteckt, sprangen einfach über das Hindernis hinweg. Es war, als hätte er in ein Wespennest gestochen. Auf der Koppel brach das absolute Chaos aus. Statt nordwärts am Ufer des Donua entlangzugaloppieren, wohin Bartók wenigstens einige Tiere mit Geschrei und einer Heugabel treiben wollte, stürmten sie wild durcheinander. Zwei riesige,

Weitere Kostenlose Bücher