Der Traum des Schattens
Wohnzimmer war noch Licht.
Mónika hatte sich hinter dem Sessel verschanzt. In der Hand hielt sie ein Küchenmesser, Attila hatte sie hinter sich geschoben. Ihr gegenüber stand, vornübergebeugt wie ein wildes Tier kurz vor dem Sprung, Kommissar Bartók.
» Mattim«, stöhnte Mónika. » Gott sei Dank!«
» Ah, Mattim«, rief Bartók begeistert. Er schien ungewöhnlich gut gelaunt. In seinen Augen brannte etwas Fremdes, das gar nicht zu seiner sonst eher spröden Art passen wollte. » Da bist du ja, mein Junge!«
» Was ist hier los?«, erkundigte Mattim sich.
Attila entwischte der zupackenden Hand seiner Mutter und rannte zu ihm. » Der da will mich zu meinem Vater bringen!«
» Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kriminalpolizei neuerdings dafür zuständig ist«, fauchte Mónika und ließ das Messer sinken.
» Herr Bartók, ich begreife nicht…«, begann Mattim, aber noch während er sprach, verstand er es sehr wohl.
Vor ihm stand ein Schatten, ein neuer Schatten, für den die Zeit knapp wurde. Es war mitten in der Nacht, und der Morgen drohte. Es war sein erster und würde zugleich der allerletzte Morgen für ihn sein, wenn er sich nicht bald holte, was er brauchte.
Mattim trat einen Schritt näher und legte Ruhe und Entschlossenheit in seine Stimme. » Geht ins Schlafzimmer«, sagte er zu dem Jungen und seiner Mutter. » Schließt euch dort ein, alle beide.«
» Unsereins kann durch Wände gehen, oder ist das etwa nur ein Gerücht?«, erkundigte sich Bartók freundlich.
» Geht«, befahl Mattim, und zu seiner Erleichterung gehorchte Mónika sofort. Sie streckte die Hand nach ihrem Sohn aus.
» Sie dürfen mich nicht beißen!«, rief Attila. » Ich gehöre nämlich schon Réka. Hier, sehen Sie das?« Triumphierend zeigte er die beiden schwarzen Punkte an seinem Handgelenk vor.
Bartók seufzte niedergeschlagen. » Ich wollte ihn nur zu seinem anderen Elternteil bringen.«
» Ach, Unsinn!«, fuhr Mattim ihn an. » Sie wollten ihn für sich, weil Sie nicht auf die Jagd gehen mögen wie jeder andere. Glauben Sie, Sie könnten sich hier einfach bedienen?« Er zwang seinen Zorn nieder. » Setzen Sie sich«, befahl er dann. » Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
Bartók lächelte düster. » Ja, da wunderst du dich, was? Ich wollte mit deiner Hanna reden, für dich wollte ich das alles tun, sie davon überzeugen, dass sie dich kennt. Weiß der Teufel warum, aber ich bin zu den Szigethys gefahren und wollte Réka bitten, ein Treffen zu vereinbaren. Ich bin bloß in den Garten gegangen und habe mich dort umgeschaut.« Er schob den Hemdsärmel hoch und offenbarte den frischen Abdruck spitzer Zähne. » Dort habe ich dann den Wolf getroffen, einen um sich beißenden, tollwütigen Wolf.«
» Was?«, rief Mattim entsetzt. » In dieser Welt?«
» Der Wolf hat mich gebissen, und ehe ich es mich versah, waren wir beide drüben. Ich war in einer Welt, dunkler noch als diese, und bin über Pflastersteine gelaufen, die tausend Jahre alt waren und tausend Träume. Es war nicht geplant, aber es ist geschehen, und nun bin auch ich ein Wandler zwischen den Welten.« Bartók, bitter und deprimiert, hob den Kopf. » Dort habe ich Kunun getroffen, ausgerechnet ihn, und er hat sich halb tot gelacht über mein Unglück! Ich soll dir etwas ausrichten, junger Prinz: Die Wölfe werden zu beiden Seiten des Flusses heulen. Die Schatten werden im Mittagslicht tanzen. Die Grenzen verschwimmen. Licht wird zu Dunkelheit, und nichts bleibt, wie es war. So, die Botschaft ist überbracht. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um abzutreten, aber wie, verdammt noch mal?«
» Nein«, sagte Mattim. » Der Zeitpunkt ist noch lange nicht gekommen.«
» Alles wird dunkel!«, schrie Bartók. » Es gibt keine Hoffnung mehr. Ich bin ein Schatten, ich war sogar bereit, ein Kind zu beißen! Was ist nur aus uns allen geworden?« Er stand auf und schien dabei die kleine Stube zu sprengen, mit der kalten Gier und dem Zorn eines Schattens. » Jetzt gibt es nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Es gibt nur noch das nackte Überleben in einer Existenz, die diesen Namen nicht verdient. Mir steht eine Ewigkeit bevor, in der ich darüber nachbrüten kann, was wir verloren haben.«
» Hören Sie auf«, sagte Mattim schroff. » Sie sind ein Schatten, na und? Umso besser. Ich würde mich nicht wundern, wenn das einer meiner Brüder war– um Sie davor zu schützen, dass Sie eine von Kununs Marionetten werden. Es war Wilder, vermute ich, denn
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