Der Traum des Schattens
helfen würde. Kaltes Wasser, so viel sie konnte. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Kunun auf dem Boden und wiegte die Tote in seinen Armen.
» Es war Mitte Februar«, sagte er leise, obwohl Magdolna ihn nicht mehr hören konnte. » Es war so kalt, dass der Schnee festgefroren war und man kaum gehen konnte, ohne auszugleiten. Da war eine Alte am Straßenrand, eine Bettlerin, die mir den Sieg versprochen hat. Ich habe sie nicht erkannt, und ich wusste nicht, dass sie mich kannte, daher habe ich ihre Worte für bare Münze genommen. Aus diesem Wintertag, dachte ich, wird der Frühling sprossen, aus dem Februar ein Mai… Ich habe Mattim am Leben gelassen, egal was er angestellt hat. Ich habe mit Réka getanzt, mit diesem kleinen, dummen Mädchen, nur um dieser angeblichen Prophezeiung willen. Es ist, als würde sich der Stern, nach dem man sich gerichtet hat, als eine Täuschung entpuppen, eine Luftspiegelung. Da ist nichts als der leere Himmel.«
» Du brichst mir das Herz«, flüsterte sie. Sein Schmerz wurde zu ihrem. Es gab keinen Schutz vor diesen Gefühlen; es war, als wäre ein Vorhang aufgerissen, und dahinter war nicht heller Tag, sondern Nacht, und im Dunkeln saß jemand, der weinte, untröstlich. Jemand, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass er weinen konnte. In diesem Moment liebte sie Kunun so sehr, dass es sie fast auseinanderriss.
Als ihr Handy klingelte, wollte sie erst nicht rangehen. Kunun hob den Kopf. Seine Augen waren leer und dunkel. » Atschorek?«, fragte er. » Ist Mattim ihr schon wieder entwischt?«
» Nein«, sagte Hanna. » Es ist Mária.«
Er ließ die Tote zu Boden gleiten wie eine zerbrochene Puppe. In seinem zerstörten Gesicht war nichts mehr von dem Kummer zu sehen, den er eben noch ausgetobt hatte.
» Los«, sagte er schroff. » Holen wir sie uns.«
» Ist sie wirklich deine Enkelin?«
Er schüttelte den Kopf. » Ich habe keine Ahnung. Kann sich ein Mann je sicher sein, dass die Frau, der er sein Schicksal anvertraut, nicht irgendein übles Geheimnis in sich trägt, das sie vor ihm verbirgt?«
28
BUDAPEST, UNGARN
Atschorek stieß Mattim auf die Rückbank und fuhr los, während Mirita noch den Fuß auf der Straße hatte.
» Bist du verrückt?«, schrie sie und knallte die Tür zu.
Auch Mattim war noch nicht bereit für Atschoreks Tempo. Er wurde gegen die Vordersitze geschleudert, als seine Schwester um eine Kurve bretterte. Hilfesuchend warf er einen Blick durch die Heckscheibe.
Mirita sprach seine Gedanken aus. » Was ist mit den Wächtern? Kommen sie in einem anderen Wagen nach?«
Atschorek antwortete nicht. Mit quietschenden Reifen umrundete sie eine Verkehrsinsel.
» Wo fährst du überhaupt hin?«, wollte Mirita wissen. » Da vorne ist die Brücke über den Fluss. Verdammt, du bist falsch abgebogen!«
Mattim versuchte, sich aus seinen Fesseln herauszuwinden– es war zwecklos. Aber vielleicht konnte er die Autotür mit dem Fuß öffnen und hinausspringen, sobald Atschorek anhielt. Genau das tat sie in diesem Moment so ruckartig, dass er erneut gegen die Sitze prallte.
Seine Schwester stürzte aus dem Wagen und zerrte ihn auf die Straße.
» Jetzt sag mir endlich, was los ist!«, rief Mirita. » Wohin willst du? Wir müssen ins Burgviertel und von dort weiter nach Akink!«
Atschorek zog ihn an den Schultern hoch, um ihn auf die Füße zu stellen. Mattim reagierte sofort, trat sie gegen das Schienbein und warf sich gegen sie, um sie zu Fall zu bringen.
» Müssen wir dich denn schon wieder betäuben?«, rief Mirita. Erneut sah er das kleine schwarze Gerät in ihrer Hand, den Elektroschocker.
Atschorek stieß die Flusshüterin zur Seite. » Nein!«, befahl sie scharf. » Auf keinen Fall, lass das!«
» Warum nicht?«, fragte Mirita. » Wenn er uns entkommt, sieht es übel für uns aus. Wir sind nur zu zweit!«
» Er soll auf eigenen Füßen stehen«, erklärte Atschorek. » Glaubst du, ich will ihn tragen? Komm endlich und pack mit an. Da vorne an der Markierung, dort gehen wir durch.«
Gemeinsam schoben sie Mattim durch die Pforte. Er hörte auf, sich zu wehren, denn im Grunde konnte ihm nichts Besseres passieren, als dass sie ihn in den Wald brachten und nicht auf den Henkersplatz in Akink.
Atschorek versetzte ihm einen Stoß, sodass er bäuchlings auf den morastigen Boden fiel. Er rollte sich herum und sah sie mit einem Messer in der Hand über sich stehen.
» Was wird das?«, fragte Mirita. » Wir sollen ihn in die Stadt bringen. Du
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