Der Traum des Schattens
Wiehern ausstieß. Noch immer waren Geschrei und Kampflärm zu hören, doch es war schon etwas ruhiger als vorhin. Sie galoppierten durch die Dunkelheit, über die Brücke, an den abziehenden Rebellen vorbei. Fledermäuse flatterten um sie herum. Der tote Fluss glomm dumpf unter ihnen.
Die Zeit schien ihnen zwischen den Fingern zu zerrinnen. Es war, als hätten sie Sand in den Händen, den sie nicht festhalten konnten. Vielleicht war Attila gar kein Lichtkind. Vielleicht saßen sie einem Irrtum auf, der den Jungen das Leben kostete. So wie bei Mária.
» Hanna«, sagte Mattim, » ich brauche dich, um durch die Pforten zu gehen. Außerdem ist es sicherer für dich, du bist als Schatten nicht ganz so verwundbar. Andererseits fürchte ich, wenn wir zu lange warten… und wenn mir etwas geschieht, bist du in deinem Schattendasein gefangen.«
» Bietest du mir etwa an, wieder ein Mensch zu werden?«
Sie saß hinter ihm, die Arme um seinen Körper geschlungen, deshalb konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Allerdings konnte sie sich vorstellen, wie viel es ihn kostete, ihr das ausgerechnet jetzt vorzuschlagen. » Erst müssen wir Attila finden.«
» Es ist ein Risiko. Wenn mir etwas zustößt…«
» Dir wird schon nichts geschehen«, unterbrach sie ihn.
Das lasse ich nicht zu, niemals. Aber sie wussten beide, dass der Junge an erster Stelle stand. Sonst hätten sie einander an den Händen fassen und verschwinden können. Für sie beide kam das nicht in Frage, obwohl es keine Garantie dafür gab, dass sie diesen Wettstreit um Attila überleben würden.
Das Pferd kannte die Waldwege und hielt unbeirrbar auf die Lichtung zu, auf der sich die Rebellen meist zusammenfanden. Fledermäuse hockten überall in den Bäumen, die anderen Reiter waren schon zurück. Mária rannte zwischen ihnen herum und rief die ganze Zeit: » Was ist passiert? Ihr habt Akink stehen lassen? Warum denn, um Gottes willen? Wie könnt ihr es wagen, herzukommen und mir zu sagen, dass Kunun noch lebt?«
Mattim rief seine Armee zur Ordnung. » Wir müssen sofort weiter, und ich brauche so viele Begleiter wie möglich, egal ob Schatten, Jaschbiner, Wölfe. Folgt mir.«
Sie sahen ihn an, als wäre er verrückt, und sein Vater protestierte halbherzig.
» Mein Sohn …«, begann er und verstummte dann wieder.
» Du gehörst wieder zu uns, Hanna?« Mária drängte sich durch die Menge. » Das wird aber auch Zeit.– Verrät mir jetzt endlich mal jemand, was eigentlich los ist?«
» Ein letzter Kampf steht uns bevor«, antwortete Mattim, » für die Hoffnung.«
Mónika lag kraftlos am Ufer. Die Welt war schwarz. Ihre Beine schmerzten so sehr, dass sie sie nicht mehr bewegen wollte, und ohne Schuhe zu laufen hatte ihren Füßen nicht gutgetan. Sie konnte nicht mehr, da konnte er sie noch so anknurren, dieser verfluchte Wolf.
» Nein«, stöhnte sie. » Ich will nicht.«
Seine Schnauze war in ihrem Gesicht. Er leckte ihr über die Wange, liebevoll. Steh auf.
Ohne ihn hätte sie es nie über den Fluss geschafft, also hatte er wohl das Recht, ihr Vorschriften zu machen. Wo waren nur die Menschen, die ihr halfen, nach Hause zu kommen? Er hatte ihr doch Hilfe versprochen, oder?
» Meine Güte, Wolf, ich hasse dich.« Sie rappelte sich auf, alles um sie drehte sich. » Wohin jetzt?«
Ihre Kleider klebten in der schwülwarmen Luft am Körper, ein Schwarm Insekten tanzte über ihrem Kopf. » Zurück? Den ganzen Weg, nur an diesem Ufer? Du bist verrückt, Wolf, weißt du das? Was soll das bringen?«
Sie konnte nicht laufen, nur trotten. Zu allem Übel meldete sich der Hunger. Wenigstens hatte sie keinen Durst, dazu hatte sie zu viel Flusswasser geschluckt. Gehorsam setzte sie sich in Bewegung. Es spielte auch schon keine Rolle mehr, wie erschöpft sie war. Es war, als wäre sie ihr ganzes Leben durch die Dunkelheit gelaufen, durch einen finsteren Wald, hinter einem roten Wolf her, den man in diesem Licht für einen riesigen Fuchs halten konnte. Und auch das war verrückt.
Als sich irgendwann, nach Stunden endlosen Stolperns, Fallens und Wiederaufstehens, die Türme einer Stadt aus der Dunkelheit schälten, blinzelte sie.
» Das ist nicht Budapest. Wo um alles in der Welt sind wir?«
Vor ihr erhob sich eine Stadt mit einer Mauer. Eine Burg ragte finster in den nachtschwarzen Himmel, flackernde Lichter malten Muster auf die Türme und Dächer. Brandgeruch wehte zu Mónika herüber.
» Sag jetzt nichts«, seufzte sie. » Das ist Akink, stimmt’s?
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