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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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dunkles Haar roch nach Rauch, und in ihren Augen war etwas, das er die ganze Zeit über vermisst hatte. Heute war sie nicht wie Atschorek, die mit einem Mann spielte. Heute war sie nur Hanna.
    » Ruf es zurück, dein ganzes Heer. Bitte, Mattim, vertrau mir. Nur dieses eine Mal. Wir können Akink retten. Wir können Magyria das Licht zurückbringen. Du musst die Zerstörung stoppen, und dann holen wir Attila.«
    Ihre flehende Stimme klang tatsächlich glaubwürdig. Wie lange hatte sie das wohl einstudiert?
    » Ach, Hanna«, sagte er.
    » Küss mich«, flüsterte sie und hielt ihm das Gesicht entgegen.
    Im nächsten Augenblick sprang sie rückwärts von ihm fort, in ihrer Hand das Horn. Sie eilte zum nächsten Fenster, riss die Flügel auf, setzte das Horn an die Lippen.
    Mit aller Kraft blies sie hinein.
    Der Ton misslang. Nur ein klägliches Stöhnen entwich aus dem Instrument.
    » Man muss schon wissen, wie es geht«, sagte er. » Gib her.«
    Sie versuchte es erneut, behielt ihn dabei jedoch im Auge.
    » Du kannst mein Heer nicht zurückrufen. Lass es sein, bevor ich ernsthaft sauer werde.«
    Er wollte sie nicht töten. Er konnte nicht! Aber sein Vater hatte recht behalten. Sie kämpfte mit allen Mitteln, mit Charme, Lügen und nun mit dem plumpen Versuch, seine Leute auf eigene Faust zurückzupfeifen.
    Feinde!, muhte das Horn. Hanna erschrak so sehr, dass sie es fallen ließ, aber als Mattim mit einem Hechtsprung danach greifen wollte, schnappte sie es sich und rannte ans nächste Fenster.
    » Hanna!«, schrie er.
    Er musste sie aufhalten. Sie befanden sich im Krieg, und sie war der Feind. An ihr durfte die Mission nicht scheitern, oder unzählige Menschen würden sterben.
    Das Licht kämpft für die Unschuldigen …
    » Hanna«, sagte er gequält.
    Die Zeit lief ihm davon. Er musste es zu Ende bringen, jetzt. Sie war ein Schatten und er nur ein Mensch, aber das zählte nicht, als er sie packte und sich drehte, um sie über die Schulter nach draußen zu schleudern. Er vollendete die Drehung nicht, sondern stellte sie wieder auf die Füße. Er hielt sie fest an sich gepresst, und als sie die Hände in sein Haar grub, küsste er sie.
    Da war sie wieder, seine Hanna, seine Geliebte. Sein Mädchen. Es war, als wären sie nie getrennt gewesen. So vertraut, dieser Kuss. Sie war sein, und er wollte sie, wie er den Morgen brauchte und die Sonne, sie, die andere Hälfte seiner Seele. War sie ein Schatten? Wenn ja, dann war sie die andere Seite des Spiegels, dem Licht abgewandt. Es spielte keine Rolle. Einen herrlichen Moment lang waren sie eins, in dieser Umarmung, in diesem Kuss. Dann löste sie sich von ihm. In ihren Augen konnte er keine Falschheit, keine Lüge entdecken.
    » Ruf dein Heer zurück«, bat sie. » Vertrau mir. Wenn sich auch diese Hoffnung zerschlägt, kannst du Akink immer noch vernichten. Lass uns Attila suchen, Mattim.«
    Er starrte sie an. » Wie könnte ich Akink verbrennen, wenn das wahr wäre?«
    Sie bückte sich und reichte ihm das Horn. » Schick sie zurück in den Wald.«
    Durfte er seinen Gefühlen trauen? Erlag er nicht einem Wunschtraum, wenn er dachte: Sie liebt dich! Sie ist wieder dein! War es nicht verrückt, ihr zu glauben? Wie konnte er ausgerechnet jetzt alles auf eine Karte setzen und seinen Krieg in ihre Hände legen– nur wegen eines Kusses?
    Aber auch Réka hatte ihm gesagt, dass Hanna ihn immer noch liebte. Sie hatte es gespürt, durch ihre einzigartige Verbindung.
    Er hatte die Wahl: entweder Hanna aus dem Fenster zu werfen, wo es tief hinunterging bis auf das harte Pflaster, es damit ein für alle Mal zu beenden, so wie sein Vater es von ihm verlangte. Auch Kunun hätte er damit möglicherweise sogar eine Freude gemacht. Oder er konnte ihr glauben.
    » Mein Bruder will, dass ich dich töte«, flüsterte Mattim. » Das ist seine Art, sich zu rächen. Denn er weiß, dass ich damit nicht leben könnte, dass es nichts Schlimmeres gibt, was er mir antun kann.« Vielleicht liebte auch Kunun dieses Mädchen mittlerweile, vielleicht wäre das der Weg gewesen, ihm richtig wehzutun. » So oder so, er hat gewonnen, denn ich kann es nicht. Ich werde dir nichts tun, Hanna, koste es, was es wolle. Und wenn es die ganze Welt ist. Tut mir leid, aber so ist es nun mal.«
    Dann setzte er das Horn an die Lippen und blies zum Rückzug.
    Zurück! Rasch! Zurück! Rasch!
    Vielleicht hatte er gerade eben den größten Fehler seines Lebens begangen.
    Hanna stand dicht vor ihm, atmete den Duft seiner

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