Der Traum des Schattens
Haut ein, seines Haars. Sie hielt ihn in den Armen, während draußen der Kampf tobte, Geschrei, Rauch, Chaos. Doch in diesem Moment vergaß sie alles um sich herum, zählte nur noch, dass sie ihn bei sich hatte.
» Du bist mein Licht«, flüsterte er.
Sie sah ihm in die Augen. Vielleicht hatte sie so weit kommen müssen, so viel erfahren müssen, um ihn zu erkennen. Diese grauen Augen gehörten dem Wolf, der sie in ihren Träumen besucht hatte, der sie auf eine Wiese voller rötlicher Ähren geführt hatte, in den Duft des Sommers. Es waren dieselben Augen, die auf ihr ruhten, die sie riefen mitzukommen.
» Du bist der goldene Wolf«, wisperte sie. » Ich liebe dich.«
Es gab bloß sie beide. Die Dämmerung im Saal, nur erhellt von den flackernden Flammen vor dem Fenster, war wie ein Baldachin über ihnen, ein Zelt, in dem sie sich vor allen Finsternissen versteckten.
» Erinnerst du dich endlich?«, fragte er.
» Nein. Aber ich… ich glaube dir. Ich habe dich einmal geliebt, du bist kein Fremder. Ein Teil von mir hat es gewusst, es hat versucht, in meinen Träumen zu mir zu sprechen. Du bist mein Wolf.« Sie wollte ihn wieder küssen, doch plötzlich durchfuhr sie die Angst. » Genügt das?«
» Ja«, sagte er leise. » Es genügt.«
Er schloss die Augen, lehnte seine Stirn gegen ihre. Auf einmal fühlte sie sich ganz leicht. So leicht, als würde sie davonschweben, wie ein Löwenzahnsame mit einem winzigen Fallschirm. Sie liebte ihn. Ja, das hatte sie schon lange gewusst. Mehr noch– sie durfte ihn lieben. Sie musste sich nicht dafür hassen oder verurteilen, dass sie es tat, oder sich vorwerfen, dass sie oberflächlich und undankbar war, dass jedes Gefühl für ihn Verrat an Kunun bedeutete. Mattim war der Richtige. Genau das, was sie wollte, weder wahnsinnig noch hinterhältig. Der Richtige. Lichtprinz und Lichtprinzessin– für immer.
Einen Moment lang waren sie allein, eingeschlossen in ihre eigene Welt, wie in einem Zelt im Wald, wie auf einem Floß im endlosen Meer der Dunkelheit. Alles andere zählte nicht.
» Wenn das nicht niedlich ist.« Kunun war durch die geborstenen Türflügel gestiegen.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken bei seiner kalten Stimme, seinem entstellten Gesicht. Trotzdem hätte sie so viel dafür gegeben, um auch ihn zu retten, um ihn festzuhalten, während alles um sie her zerfiel.
» Ist das Liebe? Nennt man es so? Sie befiehlt, und er gehorcht. Ich muss gestehen, mir war nicht ganz klar, was ich hier vorfinden würde. Eine zerschmetterte Schattenfrau, die sich nicht mehr bewegen kann, und einen zerknirschten Übeltäter? Aber das hier… das übertrifft wirklich alles.«
Sie wollte nicht zurück zu Kunun. Sie konnte Mattim nicht loslassen, musste bei ihm sein, denn es war, als würde sein Herz auch für sie schlagen und sein Blut auch für sie durch seine Adern fließen. Dieses Gesicht und diese Augen, das blonde Haar und die Wärme seines Körpers– das war alles, was sie zum Leben benötigte. Doch jetzt musste sie ihr ganzes Schauspieltalent in die Waagschale legen. » Lass mich nur machen«, flüsterte sie Mattim ins Ohr und ging mit festen, selbstsicheren Schritten auf Kunun zu. » Endlich bist du da!«
» Die Rebellen ziehen ab«, sagte er. » Das ist dein Werk. Wozu hält man sich Soldaten, wenn eine einzige hübsche Frau reicht, um dem Befehlshaber der Feinde die Sinne zu verwirren?«
» Das ist noch nicht alles.« Sie sprach hastig und leise. » Ich habe ihm von Attila erzählt. Jetzt will er den Jungen suchen– und er wird ihn aufstöbern, da bin ich mir sicher. Dann ist auch dieses Problem gelöst.«
Reglos musterte er ihr Gesicht. » Du hast es ihm verraten? Inwieweit löst das irgendwelche Probleme?«
» Ich musste ihn doch davon überzeugen, dass ich auf seiner Seite stehe. Er frisst mir aus der Hand. Ulkig, oder? Dabei habe ich kaum je ein Wort mit ihm gewechselt. Ich werde ihn bei seiner Suche begleiten, und sobald wir das Kind haben, sage ich dir Bescheid.«
» Meinst du nicht, dass es ihn misstrauisch stimmt, wenn du hier mit mir redest? Er wirft gerade recht unfreundliche Blicke zu uns herüber.«
» Ich werde ihm sagen, dass ich mich gerade von dir verabschiedet habe.« Sie hoffte, dass ihr Lächeln so wirkte, wie sie es beabsichtigte: verschwörerisch, geheimnisvoll, verführerisch.
» Nimm das hier.« Hanna stand zwischen ihm und Mattim und verdeckte den kleinen, spitzen Gegenstand, den Kunun ihr in die Hand drückte. » Er ist nur ein
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