Der Traum des Schattens
verzog das Gesicht. » Zu lange habe ich hier im dunklen Wald gelebt und alle Menschen gemieden. Du musst auch hierbleiben, Mária.
Die junge Frau verzog das Gesicht zu einer Grimasse. » Verdammt. Kann dann wenigstens jemand Kunun herbringen, damit ich ihm den Hals umdrehe?«
» Wir gehen voraus!«, rief Mattim. » Vater, schick uns alle nach, die in die Sonne können!«
Nebeneinander rannten sie die Straße entlang. Hanna warf einen Blick zurück. Mirontschek war dicht hinter ihnen, er wirkte ziemlich irritiert bei seinem ersten Ausflug in eine andere Wirklichkeit. Die Luft war von Sirenengeheul erfüllt.
Wir sind zu spät, dachte Hanna, obwohl es sich kaum denken ließ, obwohl alles in ihr sich weigerte, die Realität anzuerkennen. Einen Moment war sie wie erstarrt. Attila ist tot, sie holen seine Leiche ab …
Dann raste ein Polizeiwagen an ihnen vorbei, und sie erkannte den Jungen auf dem Beifahrersitz.
» Da ist er!«, rief sie.
Mattim zog sie zur Seite, als Kununs Audi vorüberbretterte. » Ihnen nach! Wir brauchen ein Auto, rasch!« Er rannte auf das Haus zu, vor dem der Wagen von Ferenc stand.
Hannas Blick fiel auf Mattim, ihren goldenen Prinzen mit rußverschmiertem Gesicht und angesengtem Haar und dennoch so entschlossen, als stünde er erst am Beginn des Krieges und nicht an seinem Ende. Am liebsten hätte sie ihn die ganze Zeit nur angesehen, aber das musste warten.
» Ich brauche den Autoschlüssel!«
Goran, die mit Ferenc rangelte, machte sich von ihm frei und rannte ihnen entgegen. » Ich hab ihn!«
» Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie dieser. » Klaut sie mir mein Auto!«
Wann hatte Goran fahren gelernt?
» Warte nicht auf mich!«, rief Hanna. » Ich will noch etwas anderes versuchen.«
Goran setzte schon rückwärts aus der Auffahrt, da sprang Mattim zu ihr ins Auto. Mirontschek folgte nach kurzem Zögern. Auf der Straße wimmelte es auf einmal nur so von Schatten und halbnackten Jaschbinern, die durch die Pforte auf die Straße strömten. Hanna ignorierte das Chaos und wandte sich an Ferenc, der mit großen Augen die ankommenden Hundertschaften bestaunte.
Die Stadtmauer ragte vor ihnen in die Höhe und verschmolz mit dem Nachthimmel. Der Wolf führte Mónika an der Mauer entlang, bis sie an ein riesiges Tor gelangten, dessen Flügel beschädigt und halb verbrannt waren. Niemand hielt die beiden auf, als sie in die Stadt hineinspazierten. Überall schwelten Brände, waren Menschen mit Löschen beschäftigt und reichten einander wassergefüllte Eimer. Hier war es zum Glück nicht ganz so dunkel, denn zahlreiche Straßenlaternen erhellten den Weg. Mónika folgte ihrem tierischen Gefährten, vorbei an alten, verwitterten Hausfassaden. Dunkle Gestalten huschten über das Pflaster, ohne sie zu beachten, bis sich ihnen zwei Männer näherten, die keinen vertrauenerweckenden Eindruck machten.
» Menschenfrau«, flüsterte der eine. Es schien tatsächlich angemessen, in der Dunkelheit zu flüstern. » Menschenfrau, was tust du hier?«
» Sie kommt zu unserem Feuerfest«, meinte der andere.
Die Besucherin aus der anderen Welt hatte gar keine Zeit, Angst zu haben, denn sofort stellte sich der Wolf schützend vor sie, entblößte die rasiermesserscharfen Fänge und sträubte das Fell. Sogar für Mónika war dies ein furchteinflößender Anblick.
» Ist ja schon gut, war nicht so gemeint.« So schnell, wie sie gekommen waren, verzogen sich die Männer wieder.
» Danke«, sagte sie, trotzdem war ihr bange, was der Wolf mit ihr vorhatte, zu wem er sie brachte. Etwa zu Kunun, dem König in dieser Stadt?
War das ihr Schicksal? Dem finsteren, unheimlichen Wald zu entfliehen, nur um jemandem ausgeliefert zu werden, der ungleich schlimmer war? Aber sie hatte die Entscheidung getroffen, ihm zu vertrauen, daher wehrte sie sich nicht – nicht einmal, als er auf die große, dunkle Burg zuhielt. Beharrlich scheuchte er sie vorwärts, durch Rauch und Finsternis, vorbei an zwielichtigen Gestalten und stöhnenden Verwundeten. Die Stadt sah aus wie bombardiert, wie ein Schlachtfeld, und wenn der Wolf sie nicht vorwärtsgetrieben hätte, wäre sie umgekehrt oder hätte sich irgendwo versteckt.
Als Mónika ein himmlischer Duft nach Gebackenem in die Nase stieg, dachte sie zunächst, dass sie träumte, so unpassend erschien es ihr in dieser Hölle aus Flammen, Rauch und Schmerzen.
» Es riecht nach Essen. Das ist eine Halluzination, oder?«
Im Licht der Laternen erkannte sie einen alten Mann, der
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