Der Traum des Schattens
geschehen werden. Warum soll ich darauf hinarbeiten, Akink zu retten, wenn die Leute gar nicht gerettet werden wollen? Ich muss es wissen, Hanna, und dazu wird sich nie eine bessere Gelegenheit ergeben als diese.«
» Selbst wenn es schiefgeht?«, fragte sie leise.
» Ja«, sagte er. Natürlich sagte er das, sonst wäre er nicht Mattim gewesen, der Prinz des Lichts, einer, der einfach nicht aufgeben konnte. Was hätte sie auch sonst erwarten können? » Selbst dann.«
Réka seufzte leise. » Sagt, wohin ihr wollt, dann bringe ich euch durch die Pforte.«
Sie hatten Réka in die Mitte genommen. Vor ihnen lag die Pforte. Nur ein Schritt fehlte bis hinüber nach Magyria, ein einziger Schritt, um das Licht auf die andere Seite zu bringen.
Es war wie ein Sprung ins Nichts, in einen finsteren Schacht. Mattim spürte den Boden unter seinen Füßen, Rékas kleine Hand in seiner. Es blieb stockfinster.
» Hanna?«, fragte er vorsichtig, aber sie antwortete nicht.
Dann endlich flackerte Licht auf. Eine unruhige Öllampe enthüllte die Identität der Personen, die bereitstanden, um ihn in Empfang zu nehmen.
» Willkommen, kleiner Bruder«, sagte Kunun.
» Zurück, sofort!«, rief Mattim, doch Réka huschte an ihm vorbei zu Kunun und hängte sich freudestrahlend an seinen Arm.
Hanna war nicht bei ihnen, obwohl Mattim davon ausgegangen war, dass Réka sie ebenfalls an der Hand gefasst hatte, so wie ihn. Gut, dass wenigstens Hanna nicht in Gefahr war.
Als die Faust des Schattenkönigs vorschnellte und ihn in den Magen traf, gelang es ihm, die Zähne zusammenzubeißen und keinen Laut von sich zu geben.
» Du bist so unglaublich berechenbar, dass es schon fast langweilig ist.« Dennoch schien es Kunun großen Spaß zu machen. » Was ist? Dachtest du etwa, du fegst alle Schatten mit deinem Licht hinweg?«
Da war kein Licht. Wie konnte das sein? Er war wieder ein Mensch, hatte den Wolf und den Schatten hinter sich gelassen. Warum war da kein Licht? Nun würde ihm niemand folgen. Er konnte aufhören zu träumen.
Kunun packte ihn am Kragen, schüttelte ihn durch und strich dann wieder sein Hemd glatt. » Entwaffnet ihn«, befahl er.
Ein paar seiner Wächter traten hinzu und nahmen Mattim das Messer ab, das er vorsorglich mitgebracht hatte.
» Komm. Da ist jemand, der dich sehen will.«
Zwei Wachen hielten den jungen Prinzen an den Armen fest. Er versuchte sich zu wehren, aber sie waren wohl angewiesen, nicht zimperlich mit ihm umzugehen, denn ein Dritter versetzte ihm einen Hieb in den Rücken, der ihn vorwärtstaumeln ließ.
Mattim versuchte ihre Gesichter zu erkennen im Halbdunkel der Flure. Nein, das waren keine Flusshüter. Unter ihnen war keiner der alten Kameraden, mit denen er früher zusammen den Wald durchkämmt und den Zugang zur Brücke bewacht hatte, sondern ausschließlich Kununs Leute. Wohin brachten sie ihn? Zu seiner Hinrichtung? Es waren nur noch ein paar Minuten bis zur Krönung. Oder war die Information falsch gewesen, war die Zeremonie vielleicht schon längst vorbei?
Die Wächter schleiften ihn hinter Kunun her, der beschwingt einherschritt und sogar ein paar Takte summte. Réka griff nach seiner Hand, aber er beachtete sie gar nicht.
» Hier wären wir.«
Sie hatten den Balkon erreicht. Davor stand eine Reihe geschmückter Soldaten, ausgezeichneter Hauptmänner. Auch Solta, Mattims früherer Vorgesetzter und Kampfgefährte, war dabei, aber er tat, als hätte er seinen ehemaligen Prinzen nicht bemerkt. Die meisten jedoch waren Männer und Frauen, die schon in Budapest für Kunun gekämpft hatten. Direkt darunter auf dem Platz wartete die Menge.
Mattim hörte ihr Raunen, die Stimmen Tausender, das Aufbranden von Jubel, als der König der Schatten sich zeigte. Den jungen Prinzen dagegen konnten die Versammelten nicht sehen. Einzig der Mann auf dem Balkon, der einsam wirkte trotz der vielen kampferprobten Schatten hinter ihm, bemerkte ihn und erschrak. Réka hatte nicht gelogen– er war da. Farank, der erloschene König des Lichts, wie zum Hohn in ein schlichtes, leuchtend weißes Gewand gehüllt. Atschorek bewachte ihn, Atschorek, glänzend trotz der Narbe auf ihrem Gesicht, stolz und schön und tödlich.
» Da ist er ja. Pünktlich wie ein Uhrwerk. Nett, dich zu sehen, Brüderchen.«
» Mattim«, flüsterte Farank.
Ihre Blicke trafen sich. Sofort war das Verstehen wieder da, die innige Liebe, die sie miteinander verbunden hatte all die Jahre, bis die Dunkelheit sie getrennt hatte. Bis sie
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