Der Traum des Schattens
sie nicht wunderschön? Du hattest nie ein Recht darauf, kleiner Bruder. Sie gehörte mir, als ich geboren wurde, und war immer schon das mir zustehende Erbe. Wie schade, Herr Farank«, seine Stimme wurde leiser, unheilvoller, » dass du dich so wenig für mich freuen kannst. Dass ich dich dazu zwingen musste, mir zu geben, was mir gehört. Wie fühlt es sich an? Kommst du dir klein vor? Ab sofort nenne ich dich nicht mehr › Ihr‹ und › Euch‹ und › Majestät‹. Du bist jetzt nur noch ein Schatten unter vielen.«
Der frühere König stand ein paar Schritte hinter ihm, umringt von Wächtern mit finsteren Gesichtern. Er wirkte um Jahre gealtert, obwohl er ein Schatten war, der nicht altern konnte. Bleich, die Lippen zusammengekniffen, war er ein Fremder in seiner eigenen Burg, in seinem eigenen Land, das sein Sohn ihm aus den Händen gerissen hatte.
» Da drüben ist dein Junge, dein Augapfel. Es geht ihm gut, siehst du? Alles wie versprochen. Du hast deinen Teil erfüllt, Vater, ich erfülle meinen. Für mich die Krone und für Mattim sein Leben.«
Farank schwieg noch immer, doch er streckte die Hände nach Mattim aus.
Sofort trat Atschorek neben ihren Vater und schob ihn sanft zurück. » Oh nein, jetzt bin ich dran. Gönn mir das Vergnügen. Haltet ihn gut fest, Wächter, es könnte sein, dass das, was jetzt kommt, dem Alten missfällt.«
» Was hast du vor?«, fragte Farank heiser, während die Schattensoldaten ihn packten.
» Es hat nichts mit dir zu tun, alter Mann.« Sie wandte sich Mattim zu, legte ihm die Hand an die Wange, eine zärtliche Geste, bei der in ihren Augen Zuneigung aufblitzte. » Mein lieber Bruder. Hab keine Angst vor mir. So oft haben wir gegeneinander gekämpft. Ich hatte dich gern als Gast in meinem Haus. Fast dauert es mich, dass es nun vorbei ist. Bevor du erschrickst– das Leben darf ich dir nicht nehmen, alles andere schon. Du kennst den Kreislauf der Verwandlungen, wer sollte ihn besser kennen als du? Mensch zu Schatten, Schatten zu Schattenwolf. Doch Schattenwolf zu Mensch? Das ist so selten, dass es beinahe schade drum ist, dich erneut in den Kreislauf der Verwandlungen zu schicken.«
Die Wachen hielten Mattim so fest, dass er sich nicht rühren konnte.
» Nein!«, rief Farank und kämpfte gegen die Soldaten an. Beinahe gelang es ihm, einem das Schwert zu entreißen. » Lasst ihn in Ruhe! Gebt ihn frei!«
Mattim ignorierte Atschorek und Kunun, er sah nur zu seinem Vater hinüber. Halt still, versuchte er ihm zu sagen. Je mehr du ihnen zeigst, was ich dir bedeute, umso mehr Freude bereitet es ihnen, uns beide zu vernichten. Es ist nicht so schlimm für mich, wie du denkst.
Ein Schatten. Sie wollten ihn erneut zu einem Schatten machen; das konnte er aushalten. Als Schatten würde er wieder besser kämpfen, ihnen entwischen, neue, bessere Pläne schmieden können. Wenn sowieso kein Licht in ihm war– gut, dann sollten sie ihm jene Dunkelheit geben, in die er gehörte, und sich einen Gegner erschaffen, der ihnen den Triumph vergällen würde.
» Ich sehe keinen Schattenwolf, der mich beißen könnte«, sagte er.
» Du glaubst, wir wollen dich…? Aber Mattim!« Atschorek klang ehrlich empört. » Haben wir nicht gerade unserem lieben Vater dein Leben versprochen? Wie könnten wir es dir da nehmen?« Sie trat noch näher an ihn heran, legte die Arme um ihn, drückte ihn fest an sich. » Nein«, flüsterte sie, » mein Lieber, du irrst dich.« Dann bog sie seinen Kopf zur Seite und biss ihm in den Hals.
Der Biss eines Schattenwolfs machte den Gebissenen zum Schatten. Der Biss eines Schattens konnte zweierlei bewirken– bei einem Menschen aus der anderen Welt nahm er ein Stück seines Lebens, einen Teil seiner Erinnerungen. Ein Mensch aus Magyria dagegen wurde ein Wolf. Ein gewöhnlicher, kleiner grauer Wolf.
» Nein!«, schrie Farank. » Tu es nicht! Das ist nicht, was ihr mir versprochen habt! Atschorek, lass ihn!«
» Warum?«, fragte Kunun. » Das ist, was er will, was er immer sein wollte. Er träumt davon, ein Wolf zu sein, seit ihn ihr Geheul das erste Mal in der Nacht geweckt hat. Wenn du das nicht weißt, Vater, wie kannst du dann behaupten, ihn zu kennen? Mir scheint, du weißt recht wenig von der wahren Natur deiner Kinder.«
Atschorek trank nicht von Mattims Blut. Sie schlug ihm nur die Zähne in die Haut. Es tat weh, so weh, dass ihm erneut die Tränen in die Augen stiegen. Rasch blinzelte er sie weg, denn er wollte seiner Schwester nicht die
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