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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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sagte Mattim, nur um die Frage nicht beantworten zu müssen, die Frage, ob er Angst um Hanna hatte. Nur ihretwegen halte ich still. Nur ihretwegen warte ich ab, statt dich über dieses Geländer ins Wasser zu werfen.
    » Es wird dir vorkommen wie Zauberei. Vielleicht ist es das sogar– wie alles, was man nicht erklären kann.«
    » Willst du sie mir demonstrieren, deine besonderen Fähigkeiten? Wann denn? Jetzt?«
    Kunun blickte in die vollkommene Nacht hinaus. Nur der Fluss leuchtete immer noch blass, und die Konturen der Gebäude traten schwarz aus dem dunklen Grau hervor, in dieser Welt, die verloren war.
    » Je dunkler die Nacht, umso heller wird das Licht strahlen«, sagte Mattim leise. Er sprach gegen sein hämmerndes Herz an, gegen das Rauschen in seinen Ohren.
    Es war beinahe, als wären sie zwei ganz normale Brüder, die gemeinsam auf einer Brücke standen und sich unterhielten.
    » Ja«, sagte Kunun. » Ein Funke Licht reicht aus, um die Ausmaße der Dunkelheit zu offenbaren. Um Schatten zu werfen, finsterer als die Nacht. Eine einzige Kerze im Meer der Nacht genügt, um die Schrecken sichtbar zu machen. Das ist es, was du tun wirst, für mich. Dafür lasse ich dich am Leben. Nur damit du deine eigene, persönliche Nacht der großen, alles umfassenden Nacht, die ich geschaffen habe, hinzufügen kannst. Willkommen in der Hölle, kleiner Bruder.«

6
    BUDAPEST, UNGARN
    Die Stadt war fremd, als wäre Hanna mehrere Jahre fort gewesen, statt nur einige Monate. Über allem lag Fremdheit wie ein düsterer Nebel. Es musste an ihren eigenen trostlosen Gedanken liegen, dass ihr selbst der zweite Bezirk grau und verloren vorkam, als watete sie durch Dunkelheit. Man konnte nicht einmal erkennen, ob die Sträucher in den Gärten grün waren, und wie hätten die Bäume Schatten spenden können, wenn die Sonne nicht schien?
    Auch die hell gestrichene Villa der Familie Szigethy hatte ihre Strahlkraft eingebüßt und wirkte um Jahrzehnte älter. Durch den Garten huschte ein dunkler Schatten, sie glaubte beinahe, sie hätte einen Wolf gesehen. Schlichen jetzt auch hier die Wölfe durch die Straßen wie in Magyria? Gab es denn nirgends mehr eine Zuflucht? Hanna schüttelte sich. Morbide Gedanken waren im Moment nicht gerade hilfreich. Entschlossen streckte sie die Hand aus und klingelte am Tor. Für die Kamera brachte sie ein mühsames Zähnefletschen zustande. Mit einem sanften Schnurren schwang das Gitter auf.
    Réka wartete an der Haustür. Trotz ihrer sechzehn Jahre sah sie keinen Tag älter aus als zwölf. Der schwarze Spitzenkragen um ihren Hals verlieh ihr etwas Puppenhaftes.
    » Wo ist Mattim?«, fragte Hanna. » Verdammt noch mal, wieso bist du einfach mit ihm verschwunden, ohne mich mitzunehmen?«
    » Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte Réka. Sie klang müde, wie nach einem langen, anstrengenden Tag. » An deiner Stelle würde ich so weit wie möglich von hier weggehen. Kehr zu deiner Familie zurück, zu deinen Eltern. Sei froh, dass du überhaupt welche hast.«
    » Lass mich rein.« Hanna drängte sich an ihr vorbei in den Flur, als könnte Mattim ganz entspannt im Wohnzimmer sitzen und den Kopf darüber schütteln, dass sie sich Sorgen gemacht hatte.
    Natürlich war er nicht dort. Dafür fielen Hanna sofort die Veränderungen auf. Die Stille. Das fehlende übliche Sammelsurium an Schuhen unter dem großen Spiegel. An der Garderobe hingen nicht so viele Jacken wie sonst.
    » Wo sind sie denn alle?«
    » Weg.«
    » Wie, weg?«
    » Meine Eltern haben sich getrennt, und meine dämliche Mutter ist auf und davon. Mit meinem Bruder.«
    Davon hatte Réka bislang kein Wort erzählt. Es war, als hätte sich die ganze Stadt verändert, als wären alle Fixpunkte ins Wanken geraten. Aber Hannas Mitleid hielt sich in Grenzen, denn das war abzusehen gewesen.
    » Setz dich erst mal.« Réka wandte das Gesicht ab, vermied jeden Blickkontakt. Sie schien Kraft zu sammeln, um eine schlechte Nachricht zu überbringen. » Sie ist von einem Tag auf den anderen abgehauen. Das tut man doch nicht als Mutter, oder? Sie hat Attila mitgenommen. Mein Vater war so was von wütend, aber er hat seinen Anwalt eingeschaltet. Er bekommt ihn zurück, du wirst sehen. Sie kann nicht einfach verschwinden und entscheiden, dass er bei ihr bleibt. Ich meine, das muss doch das Gericht klären, oder?«
    Réka hatte eine Weile Hannas Gefühle geteilt, ihre Sehnsucht nach Mattim, ihre Ängste und ihre Liebe. Hanna hatte ihrer Gastschwester einen Teil

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