Der Traum des Schattens
ihrer Seele geschenkt, denn das war der einzige Weg gewesen, sie aus ihrem Dasein als Schatten zurückzuholen. Es hatte nicht geklappt. Réka war zwar wieder ein normaler Mensch geworden, hatte jedoch nicht damit leben wollen, einen Teil von Hannas Seele zu besitzen. Sie hatte es daher rückgängig gemacht, obwohl sie damit erneut zum Vampir geworden war. Seitdem waren sie auf eine Weise verbunden, die keine von ihnen recht definieren konnte, und wenn Hanna litt, musste Réka mitleiden.
» Wo ist Mattim? Es ist auch in deinem Interesse, dass ich ihn finde.«
Réka schüttelte den Kopf. Sie schien völlig durcheinander, ein ganz anderer Mensch als noch vor wenigen Stunden, kurz bevor sie zu Kununs Krönung unterwegs gewesen waren. Das Drama in ihrer Familie konnte nicht erst heute Nachmittag geschehen sein, trotzdem ging es irgendwie auch darum, das konnte Hanna fühlen.
Sie zwang sich zur Geduld. » Du lebst hier.« Vorsichtig schickte sie die Worte voraus, tastend. » Im Tageslicht?«
» Ja«, sagte Réka trotzig. » Soweit man überhaupt noch von Tageslicht sprechen kann. Im Moment können wir einigermaßen ohne Blut leben, wenn wir aufpassen, wo wir hingehen. Wir trinken es bloß zum Vergnügen.« Sie leckte sich provozierend über die Lippen.
Am liebsten hätte Hanna sich die Frage verkniffen, aber sie musste es wissen. » Sind sie deshalb gegangen, Mónika und Attila?«
Empört sprang Réka auf. » Du glaubst, ich hab ihn gebissen? Meinen kleinen Bruder? Was denkst du von mir? Sie sind nicht vor mir geflohen, klar? Das hat überhaupt nichts mit mir zu tun! Ich bin doch nicht schuld, wenn meine Eltern sich streiten, oder? Bin ich das? Meine Mutter hat zu viel getrunken, mein Vater hat sie betrogen. Vielleicht auch umgekehrt. Oder beides. Habe ich sie dazu gezwungen, oder was? Du bist so was von unfair, Hanna. Und du? Wo warst du die ganze Zeit? Als du dich mit deinem Freund verkrochen hast, da war es dir doch total egal, was mit uns ist! Hast du dich auch nur ein einziges Mal gemeldet oder wenigstens angerufen? Nichts, gar nichts. Wie kommst du dazu, ausgerechnet mir Vorwürfe zu machen?«
Hanna musterte Réka nachdenklich. Das Mädchen hatte sich verändert. Warum hatten sie es nicht schon gestern gemerkt, als Réka angeboten hatte, Mattim durch die Pforte zu bringen? Die wenigen Wochen hatten gereicht, um aus ihr eine Fremde zu machen.
» Für dich ist immer alles so einfach«, knurrte Réka. » Du weißt ja gar nicht, wie es ist, kein Mensch mehr zu sein. Alle halten mich für einen normalen Teenager, aber ich bin mehr. So viel mehr.« In ihren Augen glomm etwas auf. » Du hasst die Schatten. Du verurteilst uns, dabei hast du nicht die geringste Ahnung.«
» Ich hasse sie nicht. Das müsstest du wenigstens wissen.«
Die Augen des Schattenmädchens verengten sich. » Du meinst Mattim? Mach dir doch nichts vor. Du hast gehasst, was er ist. Ich habe deine Gefühle gespürt, vergiss das nicht. Du wolltest ihn zwar, aber was er war… das hast du in Kauf genommen. Wie eine Krankheit, eine unheilbare Krankheit, für die du ein Heilmittel gesucht hast. Weil du immer alles heilen willst. Verrätst du mir, warum du dein Medizinstudium abgebrochen hast? Nur zu gern würdest du aus uns allen das herausoperieren, was dich stört.«
Hanna war blass geworden. » Das ist nicht wahr. Und jetzt sag mir endlich, wo Mattim ist!«
» Du hast nie begriffen, was die Schatten sind«, stieß Réka hervor. » Ich habe mich verwandelt. In etwas Wunderbares, Einzigartiges, und du sitzt hier und bedauerst mich, du schaust mich an wie jemanden, der gestorben ist. Am liebsten würdest du mir die Hand schütteln und mir dein Beileid aussprechen.«
» Aber…«
» Willst du wissen, wie es ist? Na, was ist? Willst du? Du brauchst es nur zu sagen. Hier sitzt du an der Quelle, du kannst alles erfahren, was du wissen möchtest. Glaub mir, Mattim hat dir bestimmt nicht alles verraten. Er wollte dich schonen. Wie mir diese ganzen Gutmenschen auf die Nerven gehen! Willst du die Wahrheit hören?«
» Was muss ich denn deiner Meinung nach wissen, bevor du mir erzählen kannst, wo Mattim ist und was du getan hast?«
» Es ist kalt«, flüsterte Réka. » So kalt, dass du glaubst, du würdest erfrieren. Und still. Das Blut rauscht nicht mehr in deinen Ohren. Stille herrscht in deiner Brust. Nichts als Stille. Als wärst du unten im Fluss und das ganze kalte Wasser fließt über dich hinweg. Genau so ist es, Hanna. Wie ertrinken. Du
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