Der Traum des Schattens
Nachtsicht besser wird. Ob sie sich versteckt?
Hanna besann sich auf ihr Gefühl. Schatten konnten das Leben anderer wahrnehmen… Hatte sie das nicht mal irgendwo gehört? Kam nicht von irgendwoher ein Strahlen, ein Pulsieren von Leben?
Sie wandte sich nach rechts und stand vor einer verschlossenen Tür. Ihre Hand lag schon auf dem Griff, dann zögerte sie. Wäre es nicht viel eindrucksvoller, durch das Hindernis hindurchzugehen, so wie die meisten anderen Schatten es machten?
Sie legte die Finger auf das Holz. Es war dunkel hier, dunkel genug. Eigentlich müsste ihre Hand jetzt in die Finsternis eintauchen… Sie spürte, wie die glatte, harte Oberfläche der Tür schwammig wurde, unwirklich. Noch ein wenig weiter… Plötzlich wurde die Tür wieder fest, und Hanna konnte die Hand gerade noch zurückziehen. Sie atmete heftig, vergaß, dass sie gar keine Luft brauchte, denn es fühlte sich an wie Ersticken.
Was, wenn sie in der Tür steckengeblieben wäre? Ihr war schlecht vor Entsetzen. Lieber übte sie das Wändedurchschreiten ein anderes Mal, mit Kunun zusammen. Jetzt konzentrierte sie sich wohl besser auf die Jagd. Nicht alles auf einmal, Hanna. Es gibt noch tausend Dinge zu lernen, übertreib es nicht.
Entschlossen drückte sie die Tür auf und betrat einen mit goldenen Kerzenleuchtern ausgestatteten Raum. Ein runder Tisch mit geschnitzten Füßen, die wie Löwenpranken aussahen, stand in der Mitte des Zimmers, umgeben von Stühlen, die ebenfalls auf Pfoten ruhten. In einer Vitrine in einer Ecke waren bemalte Teller ausgestellt.
» Ich weiß, dass du hier bist«, sagte Hanna. » Ich höre dich atmen.«
Sie trat einen Schritt näher.
Mit einem Schrei sprang Valentina hinter der Vitrine hervor und hetzte an Hanna vorbei zum Ausgang.
Sie trabte dem Mädchen nach, überwältigt von der Leichtigkeit ihrer Bewegungen. Wenigstens das musste sie nicht lernen– wie man jemanden jagte. Es fühlte sich ganz natürlich an, als wäre mit dem Menschen, der in ihr gestorben war, zugleich ein neues Wesen erwacht– eine Jägerin. Valentina rannte keuchend vor ihr her um ein paar Ecken, wobei sie Haken schlug wie ein Kaninchen. Es war so dumm, so sinnlos, einem Schatten entkommen zu wollen. Der Gang endete vor einem Fenster, und dort war die Flucht zu Ende.
Hinter der Scheibe war nichts als Dunkelheit. Von dort nach unten zu springen, ins Nichts, bedeutete den sicheren Tod. Valentina beugte sich über das Sims und schrak wieder zurück; sie wimmerte, als Hanna näher kam.
» Oh bitte, bitte nicht.« Sie wiederholte es in einem fort wie eine kaputte Schallplatte.
Das berauschende Gefühl, das Hanna vorangetrieben hatte, verflog im Nu, denn das Mädchen hatte Todesangst und war nahe dran, sich aus dem Fenster zu stürzen.
» Mensch, Valentina«, sagte Hanna, während ihr gleichzeitig bewusst wurde, wie wahr diese Worte waren. Mensch Valentina. » Jetzt beruhige dich doch endlich. Ich tu dir nichts. Das war bloß ein Spiel. Hast du denn überhaupt keinen Humor?«
Valentina starrte sie an, dann wurde ihr Blick von etwas abgelenkt, und ihre Lippen begannen zu zittern.
Kunun trat neben Hanna. » Seid ihr noch immer nicht fertig?«
» Ich kann das nicht«, sagte Hanna. » Schau sie dir an. Das… Nein, es geht nicht. Es wäre nicht richtig.«
» Sie so zurückzulassen wäre nicht richtig«, verbesserte Kunun. » Sie wird in dieser Angst steckenbleiben. Nur du kannst den Schrecken von ihr nehmen und sie diese Stunde vergessen lassen.« Er legte eine Hand in Hannas Rücken und schob sie mit sanftem Druck vorwärts, auf das bebende Mädchen zu.
Da fiel Valentina in Ohnmacht. Sie verdrehte die Augen und sank an der Wand herunter, gerade rechtzeitig war Kunun bei ihr, um sie aufzufangen.
» Siehst du, was du angerichtet hast?«, fragte er. » Je länger du wartest, umso schlimmer wird es. Wenn du Blut brauchst, gibt es nur zwei Regeln: Vertrauen wecken, zubeißen. Mehr musst du nicht wissen, aber diese beiden Punkte solltest du beherzigen, oder die Sache endet in Geheul und Gejammer und möglicherweise einem unschönen Kampf.«
» Tut mir leid«, flüsterte Hanna. Sie kniete sich neben das Mädchen und fühlte dessen Puls.
» Nach einem Vorfall wie diesem musst du etwas mehr nehmen. Trink einfach– ich werde dir sagen, wann du aufhören musst. Ich werde dir beibringen, wie man als Schatten lebt und überlebt. Wir geben und nehmen, immer beides. Wir beißen die Menschen und schenken ihnen damit Momente der
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