Der Traum des Schattens
Warum hätte sie unsicher sein sollen? Wer konnte ihr irgendetwas anhaben?
» Komisch«, meinte sie leise. » Mein ganzes Leben lang habe ich mir Gedanken über den Tod gemacht. Und jetzt bedeutet er nicht mehr, als dass ich ein rotes Kleid anziehe und tanzen gehe, ohne mir Sorgen zu machen, dass ich auffalle. Ich war immer viel zu ernst und habe über alles nachgegrübelt. Mich hat so viel zurückgehalten. Weißt du was? Ich habe keine Angst mehr. Ich werde tun, was ich will. Was auch immer ich will. Jetzt bin ich endlich… frei.«
» Du bist perfekt.« Kunun musterte sie bewundernd.
Eine mehrreihige Perlenkette verbarg die Wunden an ihrem Hals. Es war nichts zu sehen. Nichts als Perfektion.
Er grinste plötzlich. » Es wird Atschorek gar nicht gefallen, dass du ihr die Schau stiehlst. Sie wollte dich herrichten, damit du mir keine Schande machst, aber offensichtlich hat sie sich ein bisschen zu viel Mühe gegeben. Jetzt wird sie sich ärgern, weil du schöner bist als sie.«
» Du übertreibst. Atschorek ist ein ganz anderer Typ als ich.«
» Was meinst du, welchen Typ ich bevorzuge?«, flüsterte er in ihr Haar, und ein Schauer lief ihr über die Haut.
» Blondinen?«
Er küsste sie auf die Wange, um ihren Lippenstift nicht zu verwischen. Seine Augen funkelten belustigt. » Komm, es ist so weit. Die Feier ist in vollem Gange, Zeit für unseren Auftritt.«
Damit führte er sie auf die Empore, von der aus sie die Menge überblicken konnten. » Hast du dir schon einen Tänzer ausgesucht? Dort drüben steht der Fürst und fühlt sich ganz unwohl.«
Mirontschek bemühte sich, das war deutlich zu sehen. Er hielt sich aufrecht und hatte eine stoische Miene aufgesetzt, mit der er jedoch noch jünger wirkte. Seine Gefolgsleute umringten ihn in düsterem Schweigen. Keiner von ihnen war bewaffnet.
» Haben sie Angst, verwandelt zu werden?«
» Was immer ich entscheide, wird geschehen.«
Sie mochte jetzt nicht darüber nachdenken. » Ich will mit dir tanzen, Kunun.«
» Natürlich. Aber zwischendurch brauchst du jemanden, den du beißen kannst. Und danach tanzt du mit Mirontschek und jagst ihm gehörig Angst ein.«
» Ich soll jemandem Angst einjagen?«
Er küsste sie auf den Nacken. » Gewiss doch. Und wie. Einem lächerlichen Jüngling mit einem Zopf? Wenn er mit dir tanzt, wird er die ganze Zeit fürchten, dich zu langweilen oder dich zu verärgern, bis du ihn mir zum Fraße vorwirfst.«
Sie schritten die Treppe hinunter. Hanna fühlte, wie mehrere Männer aufblickten und den Mund nicht wieder zubekamen. Das passierte sonst nur Atschorek.
Sie wählte irgendeinen Fremden aus. Es war, als wäre sie in eine andere Haut geschlüpft, nur um festzustellen, dass sie ihr passte. Dass sie lächeln konnte, nicht wie ein schüchternes Schulmädchen, sondern wie eine Frau, die genau wusste, was sie wollte. Keinen Mann, nur sein Blut. Aber das konnte der bedauernswerte Tropf, der sie verzückt anstarrte, ja nicht wissen.
Sie verlor sich in diesem Tanz. In der Luft lag der berauschende Duft von Energie, von Leben, von süßem Blut. Ihre Beine wollten sich bewegen, ihre Füße folgten. Der junge Mann, den sie sich ausgesucht hatte, war bereits angeheitert, und als sie sich vorbeugte, tat er es ihr gleich, denn er schien zu denken, sie wollte ihm etwas ins Ohr flüstern. Es war ganz leicht, ihn zu beißen.
Über seine Schulter hinweg begegnete sie Kununs Blick. Er nickte anerkennend. Einige Meter entfernt stand der junge Fürst und starrte finster in ihre Richtung. Die Musik trug sie weiter, doch Hanna wich allen bereitwilligen Tänzern aus, bis sie vor Mirontschek landete.
» Möchtet Ihr tanzen, Fürst?«
Er sah aus, als wollte er lieber sterben, aber natürlich wagte er es nicht, sich zu widersetzen, sondern reichte ihr den Arm.
» Ihr könnt sogar die Schritte«, meinte sie überrascht. » Dabei scheint Ihr in Eurer Stadt nicht viel Platz zum Tanzen zu haben.«
» Es reicht aus«, sagte er, gerade freundlich genug, um nicht unhöflich zu sein.
» Euer Volk… Ihr wart früher Adler?«
Seine Augen verengten sich. » So heißt es«, antwortete er unverbindlich, und sie hatte das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg. » Manche trauern dieser Zeit nach, andere verweisen die Behauptung in den Bereich der Sagen und Märchen.«
» Und Ihr? Glaubt Ihr daran?«
Mirontschek zögerte. » Beim Anblick all dieser Wölfe wächst mein Glaube wieder. Vielleicht könnten wir es immer noch.«
» Habt Ihr je versucht Euch
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