Der Traum des Schattens
zu verwandeln? Und zu fliegen?«
» So funktioniert es nicht«, sagte Mirontschek. » Nicht in dieser Reihenfolge. Man muss in die Tiefe springen, erst im Fall findet die Verwandlung statt. Angeblich. Es ist nicht besonders verlockend, es auszuprobieren.«
Hanna lief ein Schauer über den Rücken. » Da habt Ihr recht, zweifellos.«
» Das Dumme ist, ich kann niemanden dazu verurteilen, es vorzuführen. Als Fürst müsste ich der Erste sein, der fliegt. Aber wenn ich sterbe, was ist dann mit meiner Pflicht, mein Volk zu regieren?« Ob er wohl je am Abgrund gestanden und sich gefragt hatte, ob er springen sollte?
» Ihr seid ein recht junger Herrscher. Habt Ihr keine Eltern?«
Mirontschek blieb mitten in der Schrittfolge stehen. » Macht Ihr Euch über mich lustig?«
» Nein«, versicherte sie hastig, » ich wollte nur ein bisschen Konversation betreiben. Aber wenn Euch das Thema nicht zusagt, können wir gerne über etwas anderes reden.«
» Ihr wisst es also wirklich nicht?«, fragte er. » Hat Kunun Euch nicht von dem Duell erzählt? Davon, wie er meinen Vater getötet hat… und meinen Großvater und meinen Urgroßvater?«
Der Hass, der in seinen Augen wohnte, war uralt, das erkannte sie in diesem Moment. Ein ererbter Hass, seit Generationen gepflegt. » Das ist ein Teil des Vertrags, den der Schattenprinz mit meiner Familie ausgehandelt hat. Dass er sich im Duell mit ihnen messen würde. Auf der Brücke.«
» Auf der Brücke?«, fragte Hanna entsetzt. » Auf der Hängebrücke über den Wolken?«
» Sie haben darin eine Chance gesehen, sich seiner zu entledigen, also haben sie zugestimmt.« Bitterkeit tränkte seine Stimme. » Doch seitdem hat er die Gelegenheit genutzt, um einen Fürsten nach dem anderen loszuwerden. Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben. Ich habe noch keine Kinder. Wenn der Prinz mich getötet hätte, hätte er einen Fürsten seiner Wahl einsetzen können, einen von seinen Schattendienern. Ich dachte erst, zu diesem Zweck hätte er Euch mitgebracht. Als meine Nachfolgerin.«
Hanna war sprachlos. Deswegen fürchtete dieser Junge sie so sehr– er hielt sie für diejenige, die seine Stadt regieren wollte! Kunun wusste das alles und hatte es nicht für nötig gehalten, sie darüber zu unterrichten. Dieser Mistkerl! Mirontschek warf einen Blick über ihre Schulter. Er musste nicht erwähnen, dass der Mann, über den sie sich gerade ärgerte, direkt auf sie zusteuerte. » Der König, nicht der Prinz«, verbesserte er sich hastig. » Verzeiht, das ist die Macht der Gewohnheit.«
» Amüsierst du dich gut, Hanna? Jetzt bin ich an der Reihe.«
Erleichtert ließ sie den Fürsten aus der Felsenstadt stehen. Kunun sah unglaublich elegant aus, nicht nur weil er Schwarz trug und weil seine Sachen maßgeschneidert waren. Seine Bewegungen versprühten Energie und Kraft, und er konnte tanzen wie kein Zweiter hier im Saal.
» Du hast Mirontscheks Vater getötet.«
Er hielt den Kopf leicht geneigt. » Hat er sich darüber beschwert? Es war ein faires Duell. Diese Felsleute glauben, sie seien die Einzigen, die das Gleichgewicht halten können.« Er drehte sie unter seinem Arm hindurch und fing sie wieder auf. Sein Gesicht war dicht vor ihrem. » Sie würden nicht zögern, mich zu töten, wenn sie könnten.«
» Warum gehst du ein solches Risiko ein?«, fragte sie. » Herrje, auf dieser Brücke! Nur ein Schritt daneben… Du darfst das nie wieder tun!«
» Wie schön, dass du dich um mich sorgst. Soll ich den Musikern sagen, dass sie einen Tango spielen sollen?«
» Ich kann nicht Tango tanzen«, sagte Hanna, aber Kunun lachte nur. » Das ist dein Tanz, wetten? Ich bringe ihn dir bei.«
Wie leicht das Leben war, wenn man tot war. Keine Sorgen, keine Ängste… Sie hatte das Gefühl, nie so sehr sie selbst gewesen zu sein. Man brauchte kein Herz, um so zu empfinden. Um das Lachen zu fühlen, perlend wie Champagner.
Kunun drehte sie und hielt sie dann fest. » Siehst du den Jungen dort drüben?«
Neugierig suchte Hanna nach der Person, die er meinen könnte. » Der da? Der Blonde? Soll ich den etwa auch noch beißen?«
Wie vom Blitz getroffen stand der Fremde da und starrte sie an.
Zweiter Teil
Stadt der Schatten
14
AKINK, MAGYRIA
Der Mann versuchte nicht einmal, sein Erschrecken zu verbergen. Während einige Pärchen an ihm vorbei zur Theke strömten, war er zu einer Statue gefroren. Er war jung, vielleicht um die zwanzig, und recht groß, hatte goldblondes Haar. Etwas in der Art, wie
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