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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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am Fenster gesehen. Gut so.
    Damit hatte er ihm gegeben, was der König der Schatten erwartete: einen Jungen, außer sich, halb wahnsinnig vor Wut und Schmerz.
    Ein grimmiges Lächeln stahl sich auf Mattims Lippen. Das letzte Wort war noch lange nicht gesprochen. Hauptsache, Kunun hielt sich für unbesiegbar. Solange er daran glaubte, dass sein kleiner Bruder rot sah und wild um sich schlug, rechnete er nicht damit, dass Mattim Pläne schmiedete.

15
    BUDAPEST, UNGARN
    Der Baum wuchs mitten im Café Gerbaud. Seine Wurzeln schlangen sich um Tischbeine und Stühle, der dicke Stamm ragte aus einer verbeulten Tischplatte heraus und bohrte sich durch die bemalte Decke. Äste hatten die Fensterscheiben gesprengt und sich einen Weg ins Freie gebahnt. Die Blätter sahen nicht gesund aus, sie waren welk und gelblich, aber der Baum hatte sich, wie eine Serviererin Kommissar Bartók eifrig versicherte, in den letzten Stunden schon etwas erholt. Er gewöhnte sich wohl an seinen neuen Standort.
    » Es ist keine Linde«, sagte sie in einem Tonfall, der jedem unmissverständlich klarmachte, dass sie sich mit Bäumen auskannte. » Obwohl er gewisse Ähnlichkeiten mit einer Linde hat. Aber sehen Sie sich nur mal die Form der Blätter an.«
    » Gezackt«, sagte Bartók und versuchte sich an seinen Biologieunterricht zu erinnern. » Äh, gewellt? Spielt das eine Rolle?«
    Die Serviererin schenkte ihm einen verächtlichen Blick. Sie schien den Baum adoptiert zu haben und nahm jede Missachtung seiner Würde und Wichtigkeit ungeheuer ernst.
    » Ich denke schon. Jedenfalls ist es kein ungarischer Baum. Nicht mal ein europäischer, würde ich meinen.« Sie verengte die Augen zu Schlitzen, bereit, zum Angriff überzugehen, falls jemand es wagte, an ihr, ihrer Einschätzung dieses Baumes oder gar an dem Baum selbst herumzumäkeln.
    Niemand wusste, wo diese verdammte Pflanze herkam und warum sie plötzlich in dem traditionsreichen Café wuchs.
    » Aus einem botanischen Garten vielleicht?«, fragte der Mann an Bartóks Seite. » Sie könnten den Baum mit einem Hubschrauber durchs Dach heruntergelassen haben.«
    Skeptisch betrachtete der Kommissar die Decke des Cafés, durch die die fremdartige Linde nach oben wuchs. Das Loch war gerade groß genug, dass der Stamm hindurchpasste. Wie jemand das ganze Wurzelwerk durch die Öffnung hätte zwängen sollen, war ihm ein Rätsel. Außerdem verschwanden die Wurzeln im Boden. Wie hätte das irgendjemand bewerkstelligen können?
    Überhaupt gingen in Budapest zurzeit zu viele rätselhafte Dinge vor sich.
    » Es ist wie mit den Mauern«, murmelte er. » Es gibt keine Erklärung dafür.«
    » Wollen Sie damit andeuten, dass dies ein übernatürliches Phänomen sein soll?«, fragte sein Kollege. » Werden heutzutage nicht mehr Löffel verbogen, sondern Bäume versetzt?«
    Bartók warf ihm einen Blick zu und musste sich dazu zwingen, nicht auf die Bisswunde zu starren. Er kannte den Mann seit Jahren, aber nun vermied er es sogar, ihn mit Namen anzureden. Es schien ihm nicht angemessen, so zu tun, als wäre alles normal, obwohl er im Moment niemandem den Rücken zudrehen mochte. Manchmal wusste er nicht, was unheimlicher war: mittelalterliche Mauern, die sich über Straßen zogen, Bäume in Cafés oder die Menschen, mit denen er tagtäglich zu tun hatte.
    Er war in Versuchung zu fragen: Und was wissen Sie darüber?, verkniff es sich jedoch rechtzeitig. Auf ein erneutes Gespräch mit Kunun war er nicht gerade erpicht. Aber vermutlich würde er nicht darum herumkommen.
    » Sind Sie hier, um mich umzubringen?«, fragte Mattim, als er die Tür öffnete und den Kommissar im Treppenhaus stehen sah. » Es ist mitten in der Nacht. Ich hoffe, Sie haben an einen Schalldämpfer gedacht.«
    An der Schwelle zum Schlafzimmer stand Mónika, die sich rasch einen Bademantel übergeworfen hatte. » Alles in Ordnung?«, fragte sie.
    » Ja«, sagte Mattim rasch, aber da hatte sie Bartók schon erkannt.
    » Sie? Ist jemandem etwas passiert? Es ist doch hoffentlich nichts mit Réka?«
    » Nein«, versicherte der Kommissar hastig. » Machen Sie sich keine Sorgen. Ich wollte nur mit Mattim reden.«
    Mattim spürte ihren fragenden Blick. Doch sie erkundigte sich nicht, ob er etwas ausgefressen hatte, sondern schloss die Schlafzimmertür wieder.
    Der Besucher kam ohne Umstände zur Sache. » Ich darf dich nicht töten. Allerdings weiß ich noch nicht, ob ich mich an die Anweisung halten soll, da ich nichts zu verlieren habe.«
    »

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