Der Traum des Schattens
Kunun lügt«, sagte Mattim. » Ich habe Ihre Mutter nicht umgebracht. Adrienn war meine Freundin, sie war eine wunderbare Frau. Die Schatten haben sie zu einer der Ihren gemacht…« Er stockte. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Wie verändert die alte Frau Bartók gewesen war, wie fremd, wie unheimlich. Kunun hatte sie auf mehr als eine Weise verwandelt.
Genau wie Hanna.
» Am Schluss hat sie sich dann gegen unsere Verfolger gewandt. Mein Leben ist, wenn Sie so wollen, ihr Vermächtnis. Fragen Sie Hanna, wenn Sie mir nicht glauben. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob sie sich überhaupt daran erinnert.« Auch dieses Detail musste er festhalten. Wie bei Adrienn… Die alte Dame hatte sich ebenfalls benommen, als wüsste sie weder, was sie für Hanna und Mattim getan hatte, noch von ihrer wachsenden Freundschaft. Gibt es noch mehr Parallelen?
Bartóks Gesicht blieb unbeweglich. » Hast du von dem Baum im Gerbaud gehört?«
» Was ist damit? Ich kenne diese Welt nicht gut genug, um über irgendetwas schockiert zu sein.«
Der Baum war ihm herzlich egal. Adrienn, Hanna. Hatte Kunun die unheimliche Veränderung der beiden Frauen gemeint, als er damit geprahlt hätte, er könnte Dinge, von denen Mattim nichts ahnte? Man brauchte einen Schattenwolf, um jemanden in einen Schatten zu verwandeln. Wie hatte Kunun sich in diesen Prozess einmischen können? Wie hatte er dafür gesorgt, dass das Ergebnis ein Wesen mit einer völlig anderen Persönlichkeit war?
Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Wenn man einem Menschen nicht nur sein Leben nahm und ihn dazu zwang, als Vampir zu leben, sondern ihn auch seines Ichs beraubte und einen willenlosen Zombie aus ihm machte, zeugte das von einer nahezu unvorstellbaren Macht und Skrupellosigkeit.
Bartók war immer noch mit dem Baum beschäftigt. » Ich versichere dir: Es gehört nicht zu den Normalitäten dieser Welt, dass Bäume in Gebäuden wachsen. Oder dass Mauern plötzlich mitten auf Straßen stehen und Unfälle verursachen. Oder dass Vampire am helllichten Tag ihr Unwesen treiben, wenn wir schon dabei sind.«
Er klang so wütend, dass Mattim die Brauen hob. » Ach, das gehört neuerdings in dieselbe Kategorie? Mauern, Bäume und Vampire?«
» Dinge, die in dieser Welt nichts zu suchen haben«, beharrte Bartók. Er zog ein verwelktes Blatt aus seiner Manteltasche und legte es auf den Tisch.
» Warum kommen Sie damit zu mir?« Mattim hielt Bartóks anklagenden Blick eine ganze Weile aus. Dann seufzte er und gab sich geschlagen. Hanna würde seine Geschichte nicht bestätigen können; bestimmt vermochte sie sich nicht einmal daran zu erinnern. Vermutlich würde sie sowieso nichts sagen, was Kununs Ansehen beschädigte. Besser, Bartók fragte sie gar nicht erst. » Also schön. Es könnte ein Baum aus Magyria sein.«
» Warst du im Café? Hast du ihn gesehen?«
» Wie denn? Es war alles abgesperrt, und dahinter haben sich die Schaulustigen fast geprügelt. Ich bin nicht durchgekommen. Ich kann nicht mehr durch Wände und Zäune gehen, dadurch bin ich klar im Nachteil.«
» Ich werde dir Zugang zum Gerbaud verschaffen, und danach redest du mit deinem Bruder. Ich muss wissen, was hier los ist.«
Mattim erkannte sofort, dass der Kommissar nur aus diesem einen Grund hergekommen war– um nicht selbst mit Kunun sprechen zu müssen.
» Ich kann nicht.«
» Wie, du kannst nicht? Nach allem, was ich für dich getan habe, willst du mir in dieser Angelegenheit nicht helfen? Obwohl ich dich auf der Stelle abknallen könnte?«
» Ihr Edelmut in allen Ehren, ich bin trotzdem nicht in der Lage dazu«, sagte Mattim. » Ich kann nicht einfach hinüber nach Magyria, genauso wenig wie Sie. Außerdem wollen Sie gar nicht, dass ich bloß mit Kunun rede, sondern dass ich herausfinde, wie er das macht, und ihn aufhalte, stimmt’s?«
» Lass dir was einfallen«, sagte Bartók streng und stand auf.
Nachdem er gegangen war, blieb Mattim auf dem Sofa sitzen und malte mit den Fingern ein Muster auf den abgewetzten Samtüberzug. » Mónika?«, fragte er leise.
Die Schlafzimmertür glitt wieder auf.
» Ich wollte nicht lauschen.« Mónikas blonde Kurzhaarfrisur war niedlich verstrubbelt, aber ihr Gesicht war blass und angespannt.
» Ist schon gut.«
» Ich kann nicht behaupten, dass ich irgendetwas verstanden hätte.« Sie ließ sich in den Sessel fallen und zog ein Kissen auf den Schoß, das sie wie ein Stofftier umarmte.
Er lehnte den Kopf gegen das Sofa und starrte an die Decke.
Weitere Kostenlose Bücher