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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Gesicht lag das Wissen, dass man sie gleich nach dem Porträtieren wegschicken würde, deshalb wirkte sie trotzig und traurig zugleich. Sie schien zu ahnen, dass sie fern ihres Elternhauses aufwachsen sollte– bestimmt hatte sie sich verbannt gefühlt. Beleidigt, abgewiesen, einsam. Dieses Mädchen wusste, dass das Licht oft schwierige, verschlungene Wege gehen musste, dass auch Lichtstrahlen nicht gerade waren. Als einzige von allen Geschwistern hatte sie sehr früh gemerkt, dass sogar das Licht seine Schattenseiten hatte.
    » Acht Geschwister«, sagte Hanna. » Warum zeigst du mir diese Bilder, Wolf?«
    Sie hätte es nicht beschwören können, aber er wirkte fassungslos. Enttäuscht. Was hatte er denn erwartet? Sie war hergekommen und hatte sich die Porträts angesehen, und jetzt?
    » Danke, sie sind wunderschön.«
    Was hätte er ihr mitgeteilt, wenn er hätte reden können? Er wollte sprechen, seine Zähne knirschten, er keuchte, und seine Ohnmacht trieb ihn zur Verzweiflung. Hanna kniete sich hin und berührte sein raues Fell.
    » Ist gut«, sagte sie sanft. » Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber ich werde es herausfinden. Gibt es noch mehr, was du mir zeigen willst?«
    Er schien nachzudenken. Dann huschte er wieder aus dem Raum, und sie folgte ihm.
    Man wusste nie, wie viele Personen sich in der Burg befanden. Manchmal wimmelte es von Wächtern; sie lauerten in jedem Winkel, redeten leise, standen an die Wände gelehnt da und schienen mit den Schatten zu verschmelzen. Manchmal kam es Hanna so vor, als würden sie es alle tatsächlich nach und nach tun– sich in der Dunkelheit auflösen. Hin und wieder zuckte noch ein Muskel, bewegte sich eine Hand oder ein Fuß, und wachsame Augen folgten jedem, der durch die Gänge schritt.
    Mach dich nicht verrückt. Du bist selbst ein Schatten.
    Kunun hatte ihr nie verboten, durch die Burg zu streifen und sich alles anzusehen. Nein, er sollte nur versuchen, ihr Vorschriften zu machen! Mittlerweile müsste er wissen, dass ich aus einer Welt komme, in der Frauen sich nicht so behandeln lassen … Warum fühlt sich das hier dann nur so falsch an?
    Sie folgte dem Wolf eine steile Treppe hinunter, auf der ihnen ein paar Wächter entgegenkamen. Das Tier drückte sich eng an die Mauer, doch Hanna tat, als wäre nichts, und nickte den Männern, die höflich grüßten, freundlich zu. Niemand versuchte sie aufzuhalten. Gleich war der Wolf wieder an ihrer Seite. Sie bogen um eine Ecke, hinter der alles dunkel war, und Hanna schaltete die Taschenlampe wieder ein. Noch eine Treppe. Dann ein schmaler Gang, rußgeschwärzt. Hatte es nicht gebrannt, damals, als Kunun sie befreit hatte? Sie blieb vor den Gitterstäben ihrer alten Zelle stehen. Hier war sie gelandet, nachdem sie Wilder nach Akink gebracht und damit den Schatten einen Weg in die Stadt gebahnt hatte. Die Wächter hatten das Stroh in Brand gesetzt, um sie umzubringen, und weil niemand jemals aufgeräumt hatte, war der Boden immer noch mit Asche bedeckt. In der Ecke stand sogar noch die verkohlte Bank. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe meinte Hanna sich selbst zu sehen, wie sie zitternd dort saß, Gefangene des Lichtkönigs.
    Wie lange war das her! Wie aus einem anderen Leben. Das war es ja auch gewesen, ein Leben, das sich von ihrem jetzigen Zustand unterschied wie Tag und Nacht, wie Licht und Schatten.
    Etwas berührte sie am Nacken. Mit einem Schrei sprang sie nach vorne und ließ die Lampe fallen.
    » Ich wollte dich nicht erschrecken.« Kunun stand hinter ihr. Dass er sich auch immer so lautlos bewegen musste! » Was machst du hier unten, wenn ich fragen darf?«
    Sie sah sich um, doch der Wolf war verschwunden.
    » Ich erkunde bloß mein neues Zuhause. Hier habe ich damals angefangen, mehr in dir zu sehen als einen Feind, den ich von Réka fernhalten muss. Als du gekämpft hast, schnell wie ein Panther. Als wir zusammen geflohen sind, durch die Gänge und die Keller unter den Häusern, durch den Rauch.«
    Er streckte die Hand aus, und sie legte ihre Finger gegen seine.
    » Am Schluss habe ich dich getragen«, sagte er. » Du konntest nicht mehr atmen, und ich habe dich bis zu dem Haus gebracht, wo die Pforte war.«
    » Dort haben sie dich dann erwischt.«
    Wie war sie zurück nach Budapest gekommen? Damals war sie noch kein Schatten gewesen, und sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ein anderer Schatten bei ihr gewesen wäre. Oder hatte Kunun sie hindurchgeführt? War er danach noch einmal umgekehrt und dabei

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