Der Traum
besaß Zola Geld, ein üppig ausgestattetes Heim, einige treue Freunde – aber hatte ihm die Ehe mit Alexandrine Meley, der Jugendgeliebten, die er, so wie der Maler Claude aus dem »Werk«, geheiratet hatte, um nach jahrelangem Zusammenleben der bürgerlichen Form Genüge zu tun, wirklich das ersehnte Glück gebracht? War diese exakte und zweifelsohne auch in den Vorstellungen ihres Standes und Herkommens befangene Frau wirklich die ideale Lebensgefährtin für diesen rastlosen Arbeiter?
Wiederum kann man die Antwort auf diese Frage, die zugleich Zolas heimliche tiefste Sehnsucht zutage fördert, aus dem vorliegenden Roman herauslesen, diesmal allerdings aus der endgültigen Ausführung. Frau Hubert, die so vernünftige und ausgeglichene Frau, aus der Zola »ein Muster bürgerlicher Ausgeglichenheit und der glücklichen inneren Ruhe« machen wollte, wirkt wie ein Ebenbild von Frau Zola; und die ungestillte Sehnsucht der Familie nach einem Kind wie der Aufschrei aus Zolas eigener Seele. Ja Hubert selbst, der mit seinem Gefühlsüberschwang, seinem Bedürfnis zu lieben, seiner Anbetung der Frau der weltentrückten Gefühlsinnigkeit Angéliques so viel näher ist als die ruhige Hubertine, scheint etwas von Zolas eigenen Träumen zu verkörpern.
Trotz dieser autobiographischen Spuren, die auch in der endgültigen Fassung zweifelsohne noch vorhanden sind, scheinen Zola zwischen dem ersten Entwurf und der Schlußkonzipierung doch Bedenken wegen der allzu großen Nähe seiner ursprünglichen Idee zu seinen intimsten Wünschen und Sehnsüchten gekommen zu sein. Sein persönliches Affiziertsein läßt ihn für das Gelingen dieses Romans im geplanten Sinne fürchten: »Was ich gefunden hatte«, schreibt er in seiner Selbstverständigung, »war nicht schlecht, aber es ist nicht rein genug und macht mir Sorge wegen der Ausführung.« Deshalb verwirft er den ersten und zweiten (nicht weiter ausgeführten) Plan und erfindet eine neue Fabel, die nichts anderes ist als eine Variation des alten Märchens von der schönen, unschuldigen, armen Jungfrau und dem reichen Prinzen, der das arme Mädchen als seine Gemahlin nach mancherlei für beide gefährlichen Proben auf sein königliches Schloß zu einem Leben in Glück und Reichtum führt.
Mit diesem Wechsel der Konzeption gewinnt der Roman zwar keineswegs an Wahrscheinlichkeit und künstlerischer Qualität – ganz im Gegenteil –, dafür aber gewinnt er ein zusätzliches Interesse als Beleg für die These, daß der Realismus eines Werkes nicht durch die Anwendung einzelner Darstellungsmittel und gewisser literarischer Verfahrensweisen, sondern durch das in Inhalt und Aussage widergespiegelte Verhältnis des Autors zur Wirklichkeit, also durch seine gesamte künstlerische Methode bestimmt wird.
Zola wollte im »Traum« – nach all den vielen Werken der Wahrheit und schonungslosen Anklage – das Leben einmal so darstellen, »wie es nicht ist, wie man es sich aber erträumt: alle gut, alle ehrbar, alle glücklich. Ein ideales Leben, wie man es sich ersehnt« – mit anderen Worten: eine Welt des schönen Scheins, der Illusion, wie Octave Feuillet und George Ohnet und der sentimentale Zeitroman überhaupt seit eh und je sie geschildert hatten. Zugleich aber wollte er vermeiden, auf ihr Niveau abzusinken und selbst »kleinlich, dumm und platt« zu werden. Schließlich hatte er diese Richtung ein Leben lang aus Überzeugung und nicht zum Zeitvertreib mit aller Härte bekämpft.
Diesem Dilemma zwischen Erfüllung seines Wunschtraums und der Preisgabe der eigenen literarischen Grundpositionen glaubte Zola auf vierfache Weise entgehen zu können: erstens durch die übliche wissenschaftliche Exaktheit der Dokumentation, zweitens durch die Wahl des Milieus, drittens durch die Homogenität der Darstellung und die Einheitlichkeit der Atmosphäre und schließlich viertens durch das Sichtbarmachen der Illusion als Illusion.
Dieser »Desillusionierung« sollte vor allem der Schluß dienen. Angélique sollte in dem Augenblick sterben, da sich all ihre Wünsche erfüllt haben und die Trauung mit dem Märchenprinzen vollzogen ist. Dieser Tod auf der Schwelle des Kirchenportals, der Pforte, die sich zum Reich ihrer Träume auftut, sollte zeigen, daß Zolas Märchen nicht den Anschein erwecken will, sein Autor hielte es in der Welt für realisierbar.
»Der Tod des Kindes in dem Augenblick, da das Leben es erfaßt, gehört zur besonderen Note aller meiner Bücher, in denen man schon gesehen
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