Der Traum
gebieten, die nach vierhundert Jahren des Kampfes seine Ahnen besiegt hatte.
»Aber«, sagte Angélique, »der Bischof ist verheiratet gewesen. Er hat einen erwachsenen Sohn von zwanzig Jahren, nicht wahr?«
Hubertine hatte die Schere genommen, um eine der Musterformen aus Pergament zurechtzuschneiden.
»Ja, Abbé Cornille hat mir das erzählt. Oh, eine recht traurige Geschichte ... Der Bischof ist mit einundzwanzig Jahren Hauptmann unter Karl X.83 gewesen. Mit vierundzwanzig Jahren nahm er 1830 seinen Abschied, und man behauptet, er habe bis in seine vierziger Jahre ein vergnügungssüchtiges Leben geführt, voller Reisen, Abenteuer, Duelle. Eines Abends begegnete er bei Freunden auf dem Lande der sehr reichen, wunderbar schönen Tochter des Grafen de Valencay, Paula, die kaum neunzehn Jahre alt war, also zweiundzwanzig Jahre jünger als er. Er liebte sie bis zum Wahnsinn, und sie betete ihn an, man mußte die Heirat beschleunigen. Damals kaufte er die Ruinen von Hautecœur für ein Spottgeld zurück, für zehntausend Francs, glaube ich, in der Absicht, die Burg instand zu setzen, denn er träumte davon, sich mit seiner Frau dort niederzulassen. Neun Monate lang hatten sie tief in einem alten Besitztum in Anjou84 verborgen gelebt und sich geweigert, irgend jemand zu sehen, weil ihm die Stunden zu rasch verrannen ... Paula bekam einen Sohn und starb.«
Hubert, der gerade die Zeichnung mit weißen Fäden umstoch, sah sehr blaß aus, als er aufblickte.
»Ach, der Unglückliche!« murmelte er.
»Man erzählt, er wäre fast daran gestorben«, fuhr Hubertine fort. »Eine Woche später trat er in den Orden ein. Das ist zwanzig Jahre her, und heute ist er Bischof ... Aber man erzählt sich auch noch, er habe sich zwanzig Jahre lang geweigert, seinen Sohn zu sehen, jenes Kind, das seine Mutter das Leben gekostet hatte. Er hatte es sich vom Halse geschafft, indem er es bei einem Onkel seiner Frau, einem alten Abbé, unterbrachte, wollte nichts mehr von dem Kind erfahren und suchte es ganz zu vergessen. Eines Tages, als man ihm ein Bild des Kleinen schickte, glaubte er seine geliebte Tote wiederzusehen, man fand ihn starr auf dem Fußboden liegend, als habe ein Hammerschlag ihn niedergestreckt ... Und dann haben wohl das Alter, das Gebet jenen tiefen Gram gemildert, denn der gute Abbé Cornille sagte mir gestern, der Bischof habe jetzt endlich seinen Sohn zu sich gerufen.«
Angélique, die die Rose vollendet und so frisch gestaltet hatte, daß Duft dem Atlas zu entströmen schien, schaute wieder aus dem besonnten Fenster, mit traumversunkenen Augen. Sie wiederholte mit leiser Stimme:
»Der Sohn des Bischofs ...«
Hubertine beendete ihre Geschichte.
»Ein junger Mann, schön wie ein Gott, scheint es. Sein Vater wünschte einen Priester aus ihm zu machen. Aber der alte Abbé hat nicht gewollt, weil es dem Kleinen gänzlich an Berufung dazu fehlt ... Und Millionen! Fünfzig Millionen, nach dem, was man erzählt! Ja, seine Mutter soll ihm fünf Millionen hinterlassen haben, die in Grundstücken in Paris angelegt wurden und jetzt einen Wert von mehr als fünfzig ausmachen sollen. Kurzum, reich wie ein König!«
»Reich wie ein König, schön wie ein Gott«, wiederholte unbewußt Angélique mit ihrer verträumten Stimme. Und gedankenverloren nahm sie vom Stickrahmen eine mit Goldfaden bewickelte Bretsche, um sich an das Übersticken einer großen Lilie zu machen. Nachdem sie den Faden in den Spalt der Bretsche gelegt hatte, befestigte sie sein Ende mit einem Seidenstich ganz dicht an der Kante des Pergaments, was die plastische Stärke bewirkte. Dann sagte sie noch, während sie arbeitete, ohne ihren Gedanken zu Ende zu führen, versunken ins Unfaßliche ihres Verlangens: »Oh, ich, ich wünschte, ich wünschte ...«
Tiefe Stille sank wieder herab, durch die nur der gedämpfte Gesang aus der Kirche tönte. Hubert übertrug seine Zeichnung, indem er mit einem Pinsel über alle durchgestochenen Linien der Pause fuhr; und die Ornamente des Chorrockes erschienen so in Weiß auf der roten Seide. Er war es, der zuerst wieder sprach:
»Jene alten Zeiten, wie herrlich war es damals! Die vornehmen Herren trugen Gewänder, die ganz steif waren von Stickereien. In Lyon verkaufte man den Stoff bis zu sechshundert Pfund die Elle. Man muß die Satzungen und Vorschriften der Stickermeister lesen, in denen gesagt wird, daß die Sticker des Königs das Recht haben, mit bewaffneter Gewalt die Arbeiterinnen der anderen Meister zu
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