Der Traum
Entzücken leicht geöffnet war, ihre Augen, in denen sich die blaue Unendlichkeit ihres Traumbildes widerspiegelte. Diesen Traum eines armen Mädchens stickte sie nun mit ihrem goldenen Faden; aus ihm erstanden auf dem weißen Atlas sowohl die großen Lilien als auch die Rosen und das Namenszeichen Mariens.
Der Lilienstengel schwang sich in Flechtmuster empor wie ein Lichtstrahl, während die langen, schmalen Blätter aus Goldplättchen, die jedes mit einem Kantillestückchen festgenäht waren, in einem Sternenregen herniederfielen. Das Namenszeichen Mariens war das strahlende Mittelstück in einem Relief aus Massivgold, ausgearbeitet in Sprengtechnik und Anlegetechnik, in der mystischen Feuersbrunst seiner Strahlen brennend wie der Glorienschein eines Tabernakels85. Und die Rosen aus zarten Seiden lebten, und das ganze Meßgewand erstrahlte, war ganz weiß und mit goldenen Blüten wunderbar geschmückt.
Nach langem Schweigen hob Angélique den Kopf. Sie sah Hubertine mit schelmischem Ausdruck an, sie zuckte mit dem Kinn und wiederholte dabei:
»Ich warte auf ihn, und er wird kommen.« Es war närrisch, sich das einzubilden. Doch sie hielt hartnäckig daran fest. So würde es kommen, dessen war sie gewiß. Nichts erschütterte ihre lächelnde Überzeugung. »Wenn ich dir doch sage, Mutter, daß dies alles geschehen wird.«
Hubertine entschied sich dafür, es scherzhaft zu nehmen. Und sie neckte sie:
»Aber ich dachte, du wolltest nicht heiraten. Deine Heiligen, die dir den Kopf verdreht haben, die heiraten doch alle nicht. Eher als daß sie sich der Ehe unterwarfen, bekehrten sie lieber ihre Verlobten, flohen aus ihrem Elternhaus und ließen sich den Hals abschneiden.«
Das junge Mädchen hörte verblüfft zu. Dann brach es in lautes Lachen aus. Ihre ganze Gesundheit, ihre ganze Lebenslust sang in dieser klangvollen Fröhlichkeit. Die lagen ja so lange zurück, diese Heiligengeschichten! Die Zeiten hatten sich sehr geändert, der sieghafte Gott verlangte von niemand mehr, daß man für ihn stürbe. In der »Legenda aurea« hatte das Wunderbare sie ergriffen, mehr als die Verachtung der Welt und die Lust am Tode. Ach ja, gewiß, sie wollte heiraten und lieben und geliebt werden und glücklich sein!
»Nimm dich in acht!« fuhr Hubertine fort. »Du wirst Agnes, deine Hüterin, zum Weinen bringen. Weißt du nicht, daß sie den Sohn des Präfekten zurückwies und lieber starb, um sich mit Jesus zu vermählen?«
Die große Glocke des Turmes begann zu läuten, ein Schwarm Sperlinge flog aus einem ungeheuren Efeugerank auf, das eines der Fenster der Apsis umrahmte. In der Werkstatt hatte Hubert, der immer noch stumm war, soeben die gespannte, noch leimfeuchte Kirchenfahne zum Trocknen an einen der großen, in die Wand eingelassenen Eisennägel gehängt. Die Sonne wanderte weiter, warf heiteres Licht auf die alten Werkzeuge, die Goldhaspel, die beweglichen Arme aus Weidenholz, den kupfernen Blaker; und als sie die beiden Arbeiterinnen erreichte, flammte der Stickrahmen, an dem sie arbeiteten, auf mit seinen durch den Gebrauch blank gewordenen Leisten und Schienen, mit allem, was auf dem Stoff umherlag, den Kantillestückchen und den Goldplättchen aus der Materialschachtel, den Seidenspulen, den mit feinem Gold bewickelten Bretschen.
Da betrachtete Angélique in diesem warmen Frühlingsglanz die große symbolische Lilie, die sie beendet hatte. Dann erwiderte sie mit ihrem Ausdruck vertrauensvoller Freude:
»Aber Jesus ist doch der, den ich will!«
Kapitel IV
Trotz ihrer lebhaften Fröhlichkeit liebte Angélique die Einsamkeit; und mit dem freudigen Gefühl, sich wirklich zu erholen, war sie morgens und abends allein in ihrem Zimmer: hier ließ sie sich gehen, hier genoß sie es, ihren Träumereien die Zügel schießen zu lassen. Manchmal sogar, wenn sie im Lauf des Tages für einen Augenblick hierher eilen konnte, war sie glücklich darüber wie über eine Flucht, fühlte sich völlig frei.
Das sehr geräumige Zimmer nahm eine Hälfte des Giebels ein, dessen übrigen Teil der Boden ausfüllte. Es war ganz und gar mit Kalkweiß getüncht, die Wände, die Deckenbalken, ja sogar die hervortretenden Dachsparren der Mansardenteile; und in dieser weißen Nacktheit wirkten die alten Eichenmöbel schwarz. Als damals in der guten Stube und im Schlafzimmer unten die Verschönerungen vorgenommen wurden, hatte man das alte Mobiliar hier heraufgeschafft, das aus allen Stilepochen stammte: eine Renaissancetruhe, einen
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