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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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hob, schien sie in einem tiefen Atemzug den ganzen Frühling zu trinken, der hereindrang.
    »Ach!« murmelte sie. »War das gestern schön! – Wie gut doch die Sonne tut!«
    Hubertine, die gerade ihren Faden wachste, schüttelte den Kopf.
    »Ich, ich bin wie gerädert, ich fühle meine Arme nicht mehr. Ich bin eben nicht mehr sechzehn Jahre wie du; und wenn man so selten rauskommt!«
    Sie machte sich jedoch sogleich wieder an die Arbeit. Sie bereitete die Lilien vor, indem sie an den bezeichneten Stellen ausgeschnittene Formen aus Pergament festnähte, um ein Relief zu erzielen.
    »Und außerdem machen die ersten Sonnenstrahlen einem den Kopf benommen«, fügte Hubert hinzu, der seinen Stickrahmen gespannt hatte und sich jetzt anschickte, das Muster für die Prätexta70 des Chorrockes auf die Seide durchzustechen.
    Angélique blickte noch immer unbestimmt, verloren in den Sonnenstrahl, der von einem Strebebogen der Kirche herniederfiel. Und sanft sagte sie:
    »Nein, nein, ich hab mich so erquickt, ich habe mich erholt bei diesem ganzen Tag an der frischen Luft.«
    Sie hatte das kleine goldene Blätterwerk beendet, sie machte sich an eine der üppigen Rosen, wobei sie ebenso viele eingefädelte Nadeln wie Seidenschattierungen bereithielt, mit Spalt und Rückstichen stickend in derselben Richtung wie die Bewegung der Blütenblätter. Und trotz der Feinheit dieser Arbeit strömten jetzt die Erinnerungen an den Vortag, den sie vorhin im stillen noch einmal erlebt hatte, über ihre Lippen, brachen so zahlreich aus ihr heraus, daß sie gar nicht wieder aufhörte. Sie erzählte vom Aufbruch, vom weiten Land, vom Mittagessen dort unten in den Ruinen von Hautecœur auf den Steinfliesen eines Saales, dessen eingestürzte Mauern hoch über den Ligneul aufragten, der unten in fünfzig Meter Tiefe zwischen den Weiden dahinfloß. Sie war ganz erfüllt davon, von diesen Ruinen, von diesen unter dem Dornengestrüpp verstreuten Gebeinen, die davon zeugten, wie ungeheuer groß der Koloß gewesen, als er aufrecht dastand und die beiden Täler beherrschte. Der sechzig Meter hohe, seiner Krone beraubte, gespaltene Bergfried stand trotz allem fest auf seinen fünfzehn Fuß starken Grundmauern. Zwei Türme hatten ebenfalls widerstanden, der Turm Karls des Großen71 und der Davidsturm, die durch einen fast unversehrt erhaltenen Mittelwall miteinander verbunden waren. Im Innern fand man einen Teil der Gebäude wieder, die Kapelle, den Gerichtssaal, Gemächer; und dies schien von Riesen erbaut, die Treppenstufen, die Fenstersimse, die Bänke auf den Terrassen, in einem für die heutigen Geschlechter übergroßen Maßstab. Es war eine ganze befestigte Stadt, fünfhundert Krieger konnten hier einer Belagerung von dreißig Monaten standhalten, ohne daß es ihnen an Munition oder Lebensmitteln gefehlt hätte. Seit zwei Jahrhunderten sprengten Wildrosenbüsche die Ziegel der unteren Räume auseinander, Flieder und Goldregen blühten auf den Trümmern der eingestürzten Decken, eine Platane war im Kamin des Wachsaales gewachsen. Doch wenn bei Sonnenuntergang das Gerippe des Bergfrieds seinen Schatten über drei Meilen bebauten Landes ausstreckte und wenn die ganze Burg, die gewaltig wirkte im Abendnebel, wieder zu erstehen schien, spürte man noch die einstige Allgewalt, die derbe Kraft, welche aus ihr die uneinnehmbare Festung gemacht hatte, vor der sogar die Könige Frankreichs zitterten.
    »Und ich bin sicher«, fuhr Angélique fort, »es hausen Seelen darin, die nachts umgehen. Man hört alle möglichen Stimmen, überall gibt es Tiere, die einen anschauen, und als ich mich beim Fortgehen noch einmal umdrehte, habe ich sehr wohl gesehen, wie große weiße Gestalten über den Mauern schwebten ... Nicht wahr, Mutter, Ihr kennt doch die Geschichte der Burg?«
    Hubertine lächelte.
    »Oh, Geister! Ich, ich habe nie welche gesehen.«
    Aber in Wirklichkeit kannte sie die Geschichte, die sie in einem Buch gelesen, und sie mußte sie auf die drängenden Fragen des jungen Mädchens hin von neuem erzählen.
    Das Gebiet gehörte zum Bistum Reims seit dem heiligen Remigius, der es von Chlodwig72 erhalten hatte. Ein Erzbischof, Severinus, ließ in den ersten Jahren des zehnten Jahrhunderts in Hautecœur eine Festung errichten, um das Land gegen die Normannen zu schützen, die die Oise hinaufkamen, in die sich der Ligneul ergießt. Im darauffolgenden Jahrhundert gab es ein Nachfolger des Severinus dem jüngsten Sohn des Hauses der Normandie, Norbert, zum

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