Der Traum
Lehen gegen einen jährlichen Pachtzins von sechzig Sous73 und unter der Bedingung, daß die Stadt Beaumont und ihre Kirche frei blieben. So wurde Norbert I. das Oberhaupt der Marquis d˜Hautecœur, deren berühmtes Geschlecht seitdem die Geschichte erfüllte. Zur Zeit Hervés IV., der zweimal wegen Raubes von kirchlichen Gütern mit dem Bann belegt wurde, ein Wegelagerer war und mit eigener Hand dreißig Bürgern auf einmal die Kehle durchstach, ließ Ludwig der Dicke74 den Hauptturm schleifen, weil Hervé gewagt hatte, ihn zu bekriegen. Raoul I., der mit Philipp August75 an einem Kreuzzug teilnahm, kam vor Akka durch einen Lanzenstoß ins Herz ums Leben. Doch der Berühmteste war Johann V., der Große, der im Jahre 1225 die Festung wiederaufbaute, in weniger als fünf Jahren diese furchtgebietende Burg Hautecœur errichtete, in deren Schutz er eine kurze Zeit lang vom Throne Frankreichs träumte; und nachdem er den Metzeleien von zwanzig Schlachten entkommen war, starb er als Schwager des Königs von Schottland76 in seinem Bett. Dann kamen Félicien III., der barfuß nach Jerusalem pilgerte, Hervé VII., der seine Rechte auf den schottischen Thron geltend machte, andere noch, Mächtige und Edle, durch Jahrhunderte hindurch bis hin zu Johann IX., der unter Mazarin77 den Schmerz erlebte, zusehen zu müssen, wie die Burg geschleift wurde. Nach einer letzten Belagerung sprengte man die Gewölbe der Türme und des Bergfrieds, steckte man die Gebäude in Brand, in denen Karl VI.78 in seinem Wahnsinn Zerstreuung gesucht und die fast zweihundert Jahre später Heinrich IV.79 acht Tage lang mit Gabrielle d˜Estrées80 bewohnt hatte. Alle diese königlichen Erinnerungen schliefen jetzt unter dem Grase.
Ohne ihre Nadel still zu halten, hörte Angélique leidenschaftlich erregt zu, als sei die Erscheinung jener dahingegangenen Herrlichkeiten auf ihrem Stickrahmen erstanden, je mehr die Rose in dem zarten Leben der Farben darauf Gestalt annahm. Ihre Unkenntnis der Geschichte ließ die Ereignisse gewichtiger erscheinen, versetzte sie auf den Boden einer wunderbaren Legende.
Sie erbebte darob in entzücktem Glauben, die Burg erstand wieder, wuchs bis zu den Toren des Himmels empor, die Hautecœurs waren die Vettern der Heiligen Jungfrau.
»Und«, fragte sie, »unser neuer Bischof, Monsignore81 d˜Hautecœur, ist dann also ein Nachkomme dieser Familie?«
Hubertine erwiderte, der Bischof müsse von einer jüngeren Linie abstammen, da die ältere seit langem ausgestorben sei. Es sei sogar eine sonderbare Rückkehr, denn jahrhundertelang hätten die Marquis d˜Hautecœur und die Geistlichkeit von Beaumont in Fehde gelebt. Gegen 1150 nahm ein Abt den Bau der Kirche einzig mit den Geldmitteln seines Ordens in Angriff; daher auch fehlte es bald an Geld, das Bauwerk war erst bis zur Höhe der Gewölbe der Seitenkapellen gediehen, und man mußte sich damit begnügen, das Schiff mit einem Holzdach zu decken. Achtzig Jahre gingen dahin, Johann V. hatte gerade die Burg wiederaufgebaut, als er dreihunderttausend Pfund stiftete, die es, zusammen mit anderen Summen, gestatteten, den Bau der Kirche weiterzuführen. Man führte das Schiff vollends auf. Die beiden Türme und die große Vorderfront wurden erst sehr viel später, um 1430, mitten im fünfzehnten Jahrhundert, vollendet. Um Johann V. seine Freigebigkeit zu vergelten, hatte ihm der Klerus, ihm und seinen Nachkommen, das Recht der Bestattung in einer Kapelle der Apsis zugebilligt, die dem heiligen Georg82 geweiht ist und die seitdem die HautecœurKapelle genannt wurde. Doch die guten Beziehungen konnten kaum andauern, die Burg gefährdete ständig die Freiheiten von Beaumont, unaufhörlich kamen Feindseligkeiten um Fragen des Tributes und der Vorherrschaft zum Ausbruch. Eine Frage vor allem, nämlich die Erhebung von Brückengeld, womit die Burgherren die Schiffahrt auf dem Ligneul zu belegen trachteten, verewigte die Streitigkeiten, als der große Wohlstand der Unterstadt mit ihren Manufakturen feiner Leinwand zutage trat. Seit jener Zeit vermehrte sich der Reichtum Beaumonts von Tag zu Tag, während der Reichtum derer d˜Hautecœur abnahm, bis zu dem Augenblick, da, nachdem die Burg geschleift worden, die Kirche triumphierte. Ludwig XIV. machte eine Kathedrale aus ihr, ein Bischofssitz wurde auf dem ehemaligen Anwesen der Mönche erbaut: und der Zufall wollte es heute, daß ausgerechnet ein Hautecœur als Bischof zurückkam, dieser immer noch aufrecht dastehenden Geistlichkeit zu
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