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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Dreipaßeinfassungen geklebt, ja sogar in die Vertiefungen der Glockentürmchen und der Krabben; und unaufhörlich streifte ihr Flug die Strebebögen und pfeiler, die sie bevölkerten. Auch die Ringeltauben aus den Ulmen des bischöflichen Gartens plusterten sich auf am Rande der Dachumgänge und gingen dabei mit kleinen Schrittchen wie Spaziergänger. Manchmal glättete ein Rabe, der ganz verloren wirkte im Blau und kaum so groß wie eine Fliege war, hoch oben auf einer Turmspitze sein Gefieder. Pflanzen, eine ganze Flora, die Flechten, die Gräser, die in den Mauerspalten wachsen, brachten durch die heimliche Arbeit ihrer Wurzeln Leben in die alten Steine. An den Tagen, an denen es heftig regnete, erwachte die ganze Apsis und grollte beim Rauschen des Regengusses, der auf die Bleiplatten des Daches prasselte, sich durch die Rinnen der Galerien ergoß, mit dem Getöse eines über die Ufer getretenen Sturzbaches von Stockwerk zu Stockwerk rollte. Sogar die schrecklichen Windstöße im Oktober und März gaben der Kathedrale eine Seele, eine zornige und klagende Stimme, wenn sie durch ihren Wald von Wimpergen und Arkaden, von Säulchen und Rosetten bliesen. Die Sonne endlich erweckte sie zum Leben mit dem unsteten Spiel des Lichts, vom Morgen an, der sie mit blonder Heiterkeit verjüngte, bis zum Abend, der sie unter den mählich länger werdenden Schatten im Unbekannten ertränkte. Und sie hatte ihr inneres Leben, gleichsam das Pulsen ihrer Adern, die Zeremonien, bei denen sie mit dem Schwingen der Glocken, der Musik der Orgel, dem Gesang der Priester durch und durch erbebte. Immer zitterte das Leben in ihr: verlorene Geräusche, das Gemurmel einer stillen Messe, das leichte Niederknien einer Frau, ein kaum geahnter Schauer, nichts als die fromme Inbrunst eines mit geschlossenem Munde wortlos gesprochenen Gebetes.
    Jetzt, da die Tage länger wurden, blieb Angélique morgens und abends lange auf dem Balkon, mit dem Ellbogen auf die Brüstung gestützt, dicht neben ihrer großen Freundin, der Kathedrale. Sie liebte sie noch mehr am Abend, wenn sie nur ihre ungeheure Masse sah, die sich wie ein Block vom bestirnten Himmel abhob. Die Flächen verloren sich, kaum unterschied sie noch die Strebebögen, die wie Brücken ins Leere geschlagen waren. Sie spürte, daß die Kathedrale wach war in der Finsternis, erfüllt von den Träumen von sieben Jahrhunderten, groß durch die Scharen, die vor ihren Altären voller Hoffnung gewesen und alle Hoffnung verloren hatten. Es war ein ununterbrochenes Wachen, das aus dem Unendlichen der Vergangenheit herkam und zur Ewigkeit der Zukunft hinging, das geheimnisvolle und schreckenerregende Wachen eines Hauses, darin Gott nicht schlafen konnte. Und in der reglosen und lebenden schwarzen Masse kehrten ihre Blicke immer wieder zu dem Fenster einer Kapelle des Chores in Höhe der Büsche des ClosMarie zurück, dem einzigen Fenster, das erhellt war gleich einem zur Nacht hin aufgetanen, unsteten Auge. Dahinter brannte im Winkel eines Pfeilers eine Ewige Lampe. Gerade diese Kapelle hatten einst die Äbte Johann V. d˜Hautecœur und seinen Nachkommen zum Lohn für ihre Freigebigkeit als Begräbniskapelle geschenkt. Diese dem heiligen Georg geweihte Kapelle hatte ein Kirchenfenster aus dem zwölften Jahrhundert, auf dem man die Legende des Heiligen gemalt sah. Sowie die Abenddämmerung hereinbrach, erstand die Legende wieder aus dem Dunkel, leuchtend wie eine Erscheinung; und deshalb liebte Angélique in verträumtem und entzücktem Schauen dieses Fenster.
    Der Grundton des Fensters war blau, die Einfassung rot. Auf diesem Grund von düsterer Pracht hoben sich die Personen, unter deren wehender Gewandung sich der nackte Körper abzeichnete, in lebhaften Farbtönen ab; bunte, schwarz schattierte, in Blei eingefaßte Gläser brachten diese Wirkung hervor. Drei Szenen der Heiligenlegende füllten, übereinander dargestellt, das Fenster bis zur Archivolte aus. Unten begegnete die Tochter des Königs, die in königlichen Gewändern aus der Stadt hinausgegangen war, »um sich fressen zu lassen«, dem heiligen Georg nahe bei dem Weiher, aus dem schon der Kopf des Ungeheuers auftauchte; und ein Wimpel trug die Worte: »Guter Ritter, stürze dich nicht um meinetwillen ins Verderben, denn du könntest mir weder helfen noch mich befreien, sondern du wirst mit mir umkommen.« In der Mitte folgte dann der Kampf, der Heilige zu Pferd, der das Ungeheuer durchbohrt, was folgender Satz erklärte: »Georg schwang

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