Der Traum
bereitete ihr einfach Vergnügen. Doch in diesem Jahr hatte bei der ersten Knospe ihr Herz zu klopfen begonnen. Seit die Gräser sprossen und der Wind ihr den kräftigeren Duft des Grüns zutrug, war in ihr eine wachsende Erregung. Jähe, grundlose Ängste schnürten ihr die Kehle zu. Eines Abends warf sie sich weinend Hubertine in die Arme, ohne daß sie irgendeine Veranlassung zur Betrübnis gehabt hätte und obwohl sie sich, im Gegenteil, sehr glücklich fühlte. Nachts vor allem hatte sie köstliche Träume, sah sie Schatten vorübergleiten, verging sie in Entzücken, an das sie sich beim Erwachen nicht zu erinnern wagte, verwirrt von diesem Glück, das ihr die Engel schenkten. Bisweilen fuhr sie in der Tiefe ihres großen Bettes aus dem Schlaf auf, beide Hände gefaltet, an ihre Brust gepreßt; und sie mußte mit bloßen Füßen auf den Fliesenboden ihres Zimmers springen, so sehr benahm es ihr den Atem; und sie lief das Fenster öffnen, sie verharrte dort, erschauernd, außer sich, in diesem Bade frischer Luft, das sie beruhigte. Es war ein fortwährendes Verwundern, eine Bestürzung, sich nicht wiederzuerkennen, sich gleichsam größer zu fühlen vor Freuden und Schmerzen, die sie nicht kannte, das ganze verzauberte Erblühen des Weibes.
Verströmten denn die unsichtbaren Flieder und Goldregenblüten des bischöflichen Gartens wirklich einen so süßen Duft, daß sie ihn nicht mehr einatmen konnte, ohne daß ihr eine rosige Welle in die Wangen stieg? Noch nie hatte sie diese laue Wärme der Wohlgerüche wahrgenommen, die sie jetzt mit lebendigem Odem streiften. Und wie kam es, daß ihr in den vorhergehenden Jahren auch eine große blühende Paulownia nicht aufgefallen war, deren ungeheurer blaßvioletter Blütenstrauß zwischen zwei Ulmen des Gartens der Voincourts hervorschaute? In diesem Jahr verwirrte eine innere Erregung ihren Blick, sobald sie ihn betrachtete, so sehr ging ihr dieses blasse Violett zu Herzen. Ebenso erinnerte sie sich gar nicht daran, jemals gehört zu haben, wie laut der ChevrotteBach über den Kieseln zwischen dem Schilf seiner Ufer schwatzte. Bestimmt redete der Bach, sie hörte ihn undeutliche, immerfort wiederholte Worte sagen, die sie mit Verwirrung erfüllten. War das denn nicht mehr dasselbe Fleckchen Erde wie früher, daß alles hier sie in Erstaunen setzte und solchermaßen neuen Sinn bekam? Oder war es vielmehr sie, die sich veränderte, daß sie hier fühlte, sah und hörte, wie das Leben keimte?
Aber die Kathedrale zu ihrer Rechten, die ungeheure Masse, die den Himmel versperrte, setzte sie noch mehr in Erstaunen. Jeden Morgen vermeinte sie, sie zum ersten Mal zu sehen, war sie bewegt von ihrer Entdeckung und begriff, daß diese alten Steine gleich ihr liebten und dachten. Das war durch nichts begründet, sie hatte keinerlei Kenntnis davon, sie gab sich dem mystischen Aufschwung der Riesin hin, deren Geburt drei Jahrhunderte gedauert hatte und in welcher die Glaubensformen von Generationen übereinandergelagert waren. Unten lag sie auf den Knien, zermalmt vom Gebet, zusammen mit den romanischen Kapellen des Umganges mit den kahlen, nur mit dünnen Säulchen verzierten Rundbogenfenstern unter den Archivolten. Dann fühlte sie sich aufgerichtet, Gesicht und Hände zum Himmel erhoben mit den Spitzbogenfenstern des Kirchenschiffes, die achtzig Jahre später gebaut worden waren, leichten, hohen, von Fensterkreuzen unterteilten Fenstern, die Maßwerkbögen und Rosetten trugen. Dann verließ sie entzückt, ganz aufrecht den Erdboden mit den Strebepfeilern und den Strebebögen des Chores, die zwei Jahrhunderte danach mitten in der Spätgotik weitergebaut und verziert worden waren, beladen mit Glockentürmchen, mit Fialen und Krabben. Wasserspeier am Fuße der Strebebögen leiteten das Wasser von den Dächern ab. Man hatte eine mit Dreipässen verzierte Brüstung hinzugefügt, die den Altan über den Kapellen der Apsis abschloß. Der First war ebenfalls mit Kreuzblumen geschmückt. Und das ganze Bauwerk blühte, je mehr es sich dem Himmel näherte, in immerwährendem Emporstreben, erlöst von der uralten Priesterangst, hinsinkend an die Brust eines Gottes der Vergebung und der Liebe. Angélique empfand dies alles gleichsam körperlich, sie fühlte sich dadurch erleichtert und beglückt, als hätte sie einen Lobgesang angestimmt, einen sehr reinen, sehr zarten Lobgesang, der sich hoch oben verlor.
Im übrigen lebte die Kathedrale. Schwalben hatten zu Hunderten ihre Nester unter die
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