Der Traum
Tür zu Tür gegangen, die Einwohner zu unterrichten, welchen Weg die Statue der heiligen Agnes, die der Bischof mit dem Allerheiligsten begleitete, nehmen würde. Seit mehr als vier Jahrhunderten war dies immer derselbe Weg: Die Prozession verließ die Kirche durch das SanktAgnesTor und zog die Rue des Orfèvres, die Grand˜Rue, die Rue Basse entlang; nachdem sie durch die neue Stadt gezogen war, erreichte sie wieder die Rue Magloire und den Place du Cloître, um durch das Hauptportal wieder in die Kathedrale Einzug zu halten. Und die Bewohner dieser Straßen wetteiferten miteinander, schmückten die Fenster mit Wimpeln, bespannten die Wände mit ihren kostbarsten Stoffen, übersäten das Kopfsteinpflaster mit Rosenblättern.
Angélique gab erst Ruhe, als man ihr erlaubt hatte, die drei gestickten Bahnen aus der Schublade zu holen, in der sie das ganze Jahr über schliefen.
»Es ist ihnen nichts, gar nichts geschehen«, murmelte sie entzückt.
Als sie sorgfältig das schützende Seidenpapier abgenommen hatte, kamen die Stickereien zum Vorschein, alle drei der Jungfrau Maria geweiht: wie sie die Verkündigung vernimmt, wie sie am Fuße des Kreuzes weint, wie sie zum Himmel auffährt. Sie stammten aus dem fünfzehnten Jahrhundert, waren mit schattierter Seide auf Goldgrund ausgeführt und wunderbar erhalten; und die Stickerfamilie, die große Geldangebote ausgeschlagen hatte, war sehr stolz auf diese Pracht.
»Mutter, aber ich möchte sie aufhängen!«
Das machte viele Umstände. Hubert verbrachte den ganzen Vormittag damit, die alte Hausfront zu reinigen. Er band einen Besen an das Ende eines Stockes, er staubte das mit Klinkern geschmückte Holzfachwerk bis zum Gebälk des Dachstuhls ab; dann wusch er mit dem Schwamm den steinernen Unterbau ebenso wie alle Teile des Treppentürmchens, die er erreichen konnte. Und die drei gestickten Bahnen kamen dann an ihren Platz. Angélique hängte sie mit den Ringen an die hundert Jahre alten Nägel, Mariä Verkündigung unter das linke Fenster, Mariä Himmelfahrt unter das rechte; was den Kalvarienberg betraf, so waren für ihn die Nägel über dem großen Fenster im Erdgeschoß bestimmt, und sie mußte eine Leiter holen, um auch ihn aufzuhängen. Schon hatte sie die Fenster mit Blumen geschmückt, das alte Haus schien in seine ferne Jugendzeit zurückversetzt mit den Stickereien aus Gold und Seide, die in der schönen Festtagssonne glänzten.
Vom Mittag an herrschte in der Rue des Orfèvres rege Geschäftigkeit. Um die zu starke Hitze zu vermeiden, begann die Prozession erst um fünf Uhr; doch schon ab zwölf Uhr machte die Stadt sich schön. Den Huberts gegenüber verhängte der Goldschmied seinen Laden mit himmelblauen Tuchbahnen, die mit Silberfransen besetzt waren, während der Wachshändler daneben die Vorhänge seines Alkovens dazu verwandte, Vorhänge aus rotem Baumwollstoff, die im hellen Tageslicht blutrot wirkten. Und bei jedem Haus waren es andere Farben, ein Verschwenden von Stoffen, alles, was man hatte, ja sogar Bettvorleger wehten im müden Hauch des heißen Tages. Die Straße war mit Stoff bekleidet, war von strahlender und bebender Fröhlichkeit, war in eine festliche Galerie unter freiem Himmel verwandelt. Alle Einwohner drängten sich hier und redeten laut und ungezwungen, die einen schleppten in beiden Armen Ausschmückungsgegenstände herum, und die anderen kletterten, klopften, schrien. Von dem Ruhealtar gar nicht zu reden, der an der Ecke der Grand˜Rue aufgebaut wurde und der die Frauen der Nachbarschaft in Aufregung versetzte, die eifrig Vasen und Armleuchter herbeischafften.
Angélique lief und bot die beiden Empireleuchter an, die den Kamin in der guten Stube schmückten. Sie hatte seit dem Morgen nicht stillgesessen, sie wurde überhaupt nicht müde, so beschwingt, so getragen war sie von ihrer großen inneren Freude. Und als sie mit wehendem Haar zurückkam, um Rosen in einen Korb zu entblättern, scherzte Hubert:
»Bei deiner Hochzeit wirst du dich nicht so abmühen ... Oder hast du etwa heute Hochzeit?«
»Aber ja, ich habe heute Hochzeit!« erwiderte sie fröhlich.
Hubertine lächelte jetzt auch.
»Da nun das Haus schön ist, würden wir gut daran tun, erst einmal hinaufzugehen und uns anzukleiden.«
»Gleich, Mutter ... So, mein Korb ist voll.« Sie entblätterte noch ihre letzten Rosen, die sie sich aufhob, um sie vor dem Bischof auf die Straße zu streuen. Die Blütenblätter regneten von ihren schmalen Fingern, und schwerelos und
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