Der Traum
mit goldenen Fransen geschmückte große Baldachin aus purpurrotem Samt hatte einige Mühe, aus einem der Türflügel herauszukommen. Doch rasch stellte sich die Ordnung wieder her, die dazu bestimmten Würdenträger ergriffen die Tragstäbe. Unter diesem Baldachin schritt zwischen seinen Ehrendiakonen der Bischof mit bloßem Haupt und der weißen Stola über den Schultern, deren beide Enden seine Hände umhüllten, die das Allerheiligste hocherhoben trugen, ohne es zu berühren.
Jetzt hatten die Rauchfaßträger mehr Bewegungsfreiheit, und die Weihrauchfässer, die mit Schwung geschleudert wurden, fielen im Takt wieder herunter, wobei ihre Kettchen leise und silberhell klirrten.
Wo nur hatte Angélique jemanden gesehen, der dem Bischof ähnlich sah? In Andacht senkten sich alle Stirnen. Aber sie hatte den Kopf nur halb geneigt und betrachtete ihn. Er war hochgewachsen, schlank und edel, und für seine sechzig Jahre von prächtiger Jugendlichkeit. Seine Adleraugen leuchteten, seine etwas kräftige Nase betonte die überlegene Autorität seines Gesichtes, die durch sein dichtgelocktes weißes Haar gemildert wurde; und ihr fiel auf, wie blaß sein Gesicht war, in dem sie eine Blutwelle aufsteigen zu sehen glaubte. Vielleicht war es nur der Widerschein der großen goldenen Monstranz, die er mit seinen verhüllten Händen trug und die ihn mit einem Strahlen mystischer Helligkeit umgab.
Gewiß, ein Antlitz, das diesem ähnlich war, tauchte tief in ihrer Erinnerung auf. Gleich bei den ersten Schritten hatte der Bischof die Verse eines Psalms begonnen, die er mit leiser Stimme im Wechsel mit seinen Diakonen hersagte. Und Angélique zitterte, als sie ihn die Augen zu dem Fenster wenden sah, an dem sie stand, eine solche Strenge schien von ihm auszugehen, hochmütige Kälte, Verdammung der Nichtigkeit aller Leidenschaft. Seine Blicke waren zu den drei alten Stickereien geschweift, Maria mit dem Verkündigungsengel, Maria unter dem Kreuz, Maria in den Himmel auffahrend. Seine Blicke freuten sich, dann senkten sie sich auf sie, blieben auf ihr haften, ohne daß sie in ihrer Verwirrung zu erfassen vermochte, ob sie vor Härte oder Milde erblaßten. Schon waren sie wieder zum Allerheiligsten zurückgekehrt, waren wieder unbeweglich und leuchteten im Widerschein der großen goldenen Monstranz. Die Rauchfässer flogen mit Schwung empor, sanken mit dem silberhellen Geklirr der Kettchen wieder herab, während ein Weihrauchwölkchen in die Luft aufstieg.
Doch Angéliques Herz schlug zum Zerspringen. Hinter dem Baldachin hatte sie soeben die Mitra erblickt, die von zwei Engeln entführte heilige Agnes, ihr Werk, in das sie Faden um Faden ihre Liebe hineingestickt hatte und das nun ein Kaplan mit seinen von einem Schleier umhüllten Fingern ehrfürchtig wie etwas Heiliges trug. Und dort unter den Laien, die dem Allerheiligsten folgten, erkannte sie im Strom der Staatsbeamten, der Offiziere, der Justizbeamten Félicien in der ersten Reihe, schlank und blond, im Gehrock, mit seinem lockigen Haar, seiner geraden, ein wenig kräftigen Nase, seinen dunklen Augen von hochmütiger Sanftheit. Sie hatte ihn erwartet, sie war nicht überrascht, ihn schließlich in einen Prinzen verwandelt zu sehen. Den ängstlichen Blick, den er ihr zuwarf, Verzeihung für seine Lüge erflehend, erwiderte sie mit einem hellen Lächeln.
»Nanu!« murmelte Hubertine verblüfft. »Ist das nicht dieser junge Mann?«
Auch sie hatte ihn erkannt, und sie war beunruhigt, als sie, sich umwendend, ihre verklärte Tochter sah.
»Er hat uns also belogen? – Weshalb? Weißt du es? – Weißt du, wer dieser junge Mann ist?«
Ja, vielleicht wußte sie es. Eine Stimme in ihr gab Antwort auf erst vor kurzem gestellte Fragen. Doch sie wagte nicht, sie wollte sich nicht mehr befragen. Ihr würde Gewißheit werden, wenn es an der Zeit wäre. Sie fühlte ihr Nahen, geschwellt von Stolz und Leidenschaft.
»Was gibt˜s denn?« fragte Hubert und beugte sich hinter seiner Frau vor.
Niemals wußte er, worum es gerade ging. Und als sie ihm den jungen Mann gezeigt hatte, äußerte er Zweifel:
»Was für ein Gedanke! Das ist er nicht.«
Da tat Hubertine so, als habe sie sich getäuscht. Das war das klügste, sie würde sich noch erkundigen. Doch die Prozession, die eben wieder angehalten hatte, während der Bischof an der Straßenecke das Allerheiligste zwischen dem Grün des Ruhealtars beweihräucherte, war im Begriff weiterzuziehen; und Angélique, deren Hand verloren auf dem
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