Der Traum
duftend quollen sie über den Rand des Korbes. Und während sie auf der engen Treppe des Türmchens verschwand, sagte sie mit hellem Lachen: »Schnell! Ich werde mich schön machen wie ein Stern!«
Der Nachmittag rückte vor. Jetzt hatte sich die lebhafte Geschäftigkeit von Beaumontl˜Eglise gelegt, Erwartung bebte in den Straßen, die nun endlich fertig geschmückt waren und mit geheimnisvollen Stimmen flüsterten. Die große Hitze hatte mit der langsam sinkenden Sonne abgenommen, vom blaß gewordenen Himmel fiel nur noch ein lauer und feiner Schatten zarter Heiterkeit zwischen die dichtgedrängt stehenden Häuser. Und es herrschte tiefe Andacht, als würde die ganze Altstadt zur erweiterten Kathedrale. Nur von BeaumontlaVille, der neuen Stadt am Ufer des Ligneul, war Wagengerumpel zu hören, hier ließen viele Fabriken nicht einmal die Arbeit ruhen und verschmähten es, dieses uralte religiöse Fest zu feiern.
Schon um vier Uhr begann die große Glocke des Nordturmes zu läuten, die, deren Schwung das Haus der Huberts erschütterte; und im selben Augenblick kamen Angélique und Hubertine fertig angekleidet zum Vorschein. Hubertine trug ein mit einfacher Garnspitze verziertes Kleid aus ungebleichter Leinwand, doch ihre Gestalt wirkte in ihrer kräftigen Rundlichkeit so jung, daß sie die ältere Schwester ihrer Adoptivtochter zu sein schien. Angélique hatte ihr Kleid aus weißer Foulardseide angezogen; und nichts sonst, keinen Schmuck an den Ohren und an den Handgelenken, nichts als ihre nackten Hände, ihren nackten Hals, nichts als den Atlas ihrer Haut, die wie eine erblühende Blume aus dem leichten Stoff hervorschaute. Ein unsichtbarer Kamm hielt, eilig ins Haar gesteckt, nur schlecht die Locken ihres in Aufruhr befindlichen sonnenblonden Haars zurück. Sie war unbefangen und stolz, von argloser Schlichtheit, schön wie ein Stern.
»Ach«, sagte sie, »es läutet, der Bischof hat den Palast verlassen.«
Und weiter dröhnte das Glockengeläut laut und ernst in der großen Reinheit des Himmels. Und die Huberts richteten sich am weitgeöffneten Fenster im Erdgeschoß ein, die beiden Frauen stützten sich mit den Ellbogen auf die Fensterbrüstung, der Mann stand hinter ihnen. Das waren ihre gewohnten Plätze, von hier aus konnten sie gut als erste sehen, wie die Prozession aus der Kirche trat, ohne daß ihnen eine Kerze des Zuges entging.
»Wo ist mein Korb?« fragte Angélique.
Hubert mußte ihr den Korb mit den Rosenblättern reichen, den sie in ihren Armen hielt und an ihre Brust preßte.
»Oh, diese Glocke!« murmelte sie. »Man könnte meinen, sie schaukelt uns!«
Das ganze Häuschen bebte, hallte wider vom Schwung der Glocke; und die Straße, das Stadtviertel verharrte, von diesem Schauer erfaßt, in Erwartung, während die Behänge in der Abendluft schläfriger wehten. Der Duft der Rosen war sehr süß.
Eine halbe Stunde verging. Dann wurden mit einem Schlage die beiden Türflügel des SanktAgnesTores aufgestoßen und gaben den Blick frei in das düstere Kircheninnere, aus dem die kleinen Lichtflecken der Kerzen herausstachen. Und zuerst trat der Kreuzträger heraus, ein Subdiakon in der Tunika, ihm zur Seite zwei Akolythen, die jeder einen großen brennenden Leuchter hielten. Hinter ihnen beeilte sich der Zeremoniar, der gute Abbé Cornille, der, nachdem er sich vom schönen Zustand der Straße überzeugt hatte, in der Vorhalle stehenblieb, einen Augenblick den Zug an sich vorbeiziehen ließ, um zu überprüfen, ob die Plätze der Rangordnung nach richtig eingenommen waren. Die Laienbruderschaften eröffneten den Zug, fromme Vereine, Schulen, nach dem Alter geordnet. Es waren ganz kleine Kinder dabei, kleine Mädchen, in Weiß gekleidet wie Bräute, schön gekämmte kleine Jungen ohne Mützen, die sonntäglich herausgeputzt waren wie Prinzen und voller Seligkeit mit den Blicken schon ihre Mütter suchten. Ein neunjähriges Bürschchen ging allein in der Mitte, als der heilige Johannes der Täufer angezogen mit einem Schaffell über seinen mageren nackten Schultern. Vier mit rosa Bändern geschmückte kleine Mädchen trugen einen musselinbezogenen Schild, auf dem eine Garbe reifen Getreides aufgestellt war. Dann kamen junge Damen, die sich um ein Marienbanner geschart hatten, dann Damen in Schwarz, die gleichfalls ihr Banner hatten, eine mit einem heiligen Joseph bestickte karmesinrote Seide, andere und immer noch andere Banner aus Samt, aus Atlas, die an der Spitze vergoldeter Stangen hin und her
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