Der Traum
schaukelten. Die Männer mit ihren Laienbruderschaften waren nicht weniger zahlreich, Büßer in allen Farben, namentlich die in ungebleichte Leinwand gekleideten, mit Kapuzen bedeckten grauen Büßer, deren Wahrzeichen Aufsehen erregte, ein ungeheures Kreuz mit einem Rad, an welchem die Marterwerkzeuge Christi hingen.
Angélique schrie laut auf vor zärtlicher Zuneigung, sowie sich die Kinder zeigten.
»Oh, die allerliebsten Kleinen! Seht doch nur!«
Ein Knirps, der kaum drei Jahre alt war, stand recht unsicher, aber stolz auf seinen Füßchen und marschierte so drollig vorüber, daß sie in den Korb griff und ihn mit einer Handvoll Blüten überschüttete. Er verschwand, er hatte Rosen auf den Schultern, in den Haaren. Und das zärtliche Lachen, das er auslöste, griff immer weiter um sich, Blumen regneten aus jedem Fenster. In der summenden Stille der Straße hörte man nur noch das gedämpfte Auftreten der Prozession, während Hände voll Blumen in lautlosem Flug auf das Straßenpflaster niedersanken. Bald war der Boden dicht damit bedeckt.
Aber Abbé Cornille, der sich der guten Ordnung der Laien vergewissert hatte, wurde ungeduldig und machte sich Sorge, weil der Zug seit zwei Minuten stockte, und er eilte wieder an die Sitze, wobei er im Vorübergehen die Huberts mit einem Lächeln grüßte.
»Was haben sie nur, daß sie nicht weitergehen?« sagte Angélique, die von fieberhafter Unruhe ergriffen wurde, als erwartete sie am anderen Ende dort hinten ihr Glück.
Hubertine erwiderte in ihrer ruhigen Art:
»Sie brauchen doch nicht zu rennen.«
»Da muß irgend etwas sein, vielleicht ein Ruhealtar, der erst fertig aufgebaut werden muß«, erklärte Hubert.
Die Marienjungfrauen hatten einen Hymnus angestimmt, und ihre hellen Stimmen stiegen mit kristallener Klarheit in den freien Himmel empor. Allmählich kam der Zug wieder in Bewegung. Es ging weiter.
Nach den Laien trat jetzt die Geistlichkeit aus der Kirche, der niedere Klerus zuerst. Alle waren im Chorhemd und setzten sich in der Vorhalle das Birett103 auf; und jeder hielt eine brennende Kerze, die rechts gingen, in der rechten, die links gingen, in der linken Hand, aus der Zuglinie heraus, so daß eine doppelte Reihe unsteter Flämmchen entstand, die vom hellen Tageslicht fast ausgelöscht wurden. Zunächst war da das Priesterseminar, der Pfarrklerus, die Kollegiatskapitel; dann kamen die Geistlichen und Benefiziaten der Kathedrale, denen die Domherren folgten, die Schultern mit weißen Chormänteln bedeckt. In ihrer Mitte schritten in ihren rotseidenen Chorröcken die Vorsänger, die mit voller Stimme den Wechselgesang begonnen hatten und denen die ganze Geistlichkeit mit leiserem Gesang antwortete. Der Hymnus »Pange lingua«104 stieg sehr rein empor, die Straße war erfüllt von einem weißen Musselinrauschen, die emporgewehten Flügel der Chorhemden, die die Flämmchen der Kerzen mit ihren Sternen aus verblaßtem Gold übersäten.
»Oh, die heilige Agnes!« murmelte Angélique.
Sie lächelte der Heiligen zu, die vier Geistliche trugen, auf einer blausamtenen, mit Spitze geschmückten Trage. Jedes Jahr war sie erstaunt, wenn sie sie so außerhalb des Dunkels sah, in dem sie seit Jahrhunderten wachte, und sie ganz anders wirkte im hellen Licht, in ihrem Gewand aus langem goldenem Haar. Sie war so alt und doch sehr jung mit ihren kleinen Händen, ihren schmächtigen kleinen Füßen, ihrem schmalen Mädchengesicht, das durch das Alter dunkel geworden war.
Gleich hinter ihr mußte der Bischof kommen. Man hörte, wie hinten in der Kirche schon die Weihrauchfässer geschwenkt wurden und näher kamen.
Geflüster entstand; Angélique sagte immer wieder:
»Der Bischof ... der Bischof ...«
Und während sie die Blicke auf die Heilige gerichtet hielt, die vorüberzog, erinnerte sie sich in dieser Minute an die alten Geschichten, an die hohen Marquis d˜Hautecœur, die dank Agnes˜ Eingreifen Beaumont von der Pest befreiten, an Johann V. und alle jene seines Geschlechts, die vor ihr niederknieten und ihr Bild verehrten; und sie sah sie alle, die Herren des Wunders, nacheinander vorbeiziehen wie ein Fürstengeschlecht.
Ein großer Zwischenraum war frei geblieben. Dann trat ein Kaplan vor, der den Bischofsstab gerade vor sich hielt, das gebogene Ende auf sich gerichtet. Danach erschienen zwei Rauchfaßträger, die rückwärts gingen und mit kurzen Bewegungen die Rauchfässer schwenkten, je einen Akolythen105 mit dem Weihrauchschiffchen neben sich. Und der
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