Der Traum
denn? Schon der Tag! Sie waren darüber bestürzt, sie konnten nicht glauben, daß sie seit Stunden hier miteinander plauderten. Sie hatte ihm noch nichts gesagt, und er hatte noch so viele Dinge zu sagen!
»Eine Minute, nur eine Minute!«
Lächelnd erwachte das Morgenlicht, das schon warme Morgenlicht eines heißen Sommertages. Die Sterne waren einer nach dem anderen verloschen, und mit ihnen waren die umherirrenden Erscheinungen verschwunden, die unsichtbaren Freundinnen, die auf einem Mondstrahl wieder emporgestiegen waren. Jetzt, im hellen Tageslicht, war das Zimmer nur noch vom Weiß seiner Wände und seiner Balken weiß, war ganz leer, nur die alten Möbel aus dunklem Eichenholz standen darin. Das zerwühlte Bett war zu sehen, das einer der bedruckten Leinwandvorhänge, der wieder heruntergefallen war, zur Hälfte verbarg.
»Eine Minute, noch eine Minute!«
Angélique war aufgestanden, wehrte Félicien ab und drängte ihn zum Aufbruch. Seit das Tageslicht zunahm, war sie verwirrt, und der Anblick des Bettes verwirrte sie noch mehr. Zu ihrer Rechten hatte sie ein leises Geräusch zu hören vermeint, und ihre Haare wehten, obgleich kein Windhauch hereingedrungen war. War das nicht Agnes, die als letzte davonging, verjagt von der Sonne?
»Nein, lassen Sie mich, ich bitte Sie ... Es ist jetzt so hell, ich habe Angst.«
Da gehorchte Félicien und zog sich zurück. Geliebt werden, das war mehr, als er ersehnt hatte! Am Fenster jedoch wandte er sich wieder um, schaute er sie noch einmal lange an, als wolle er etwas von ihr mit sich nehmen.
Vom Morgenlicht gebadet, lächelten beide einander zu, in dieser lange währenden Liebkosung ihrer Blicke.
Ein letztes Mal sagte er ihr:
»Ich liebe Sie.«
Und sie wiederholte:
»Ich liebe Sie.«
Das war alles, er war bereits mit geschmeidiger Behendigkeit am Gebälk hinuntergeklettert, während sie, die auf dem Balkon geblieben war und sich auf die Brüstung gestützt hatte, ihm nachschaute. Sie hatte den Veilchenstrauß genommen, sie atmete seinen Duft, um ihr Fieber zu vertreiben.
Und als er über den ClosMarie schritt und den Kopf hob, sah er, wie sie die Blumen küßte.
Félicien war kaum hinter den Weiden verschwunden, als Angélique auch schon unruhig wurde, weil sie hörte, wie man unten die Haustür öffnete. Es schlug vier Uhr, sonst wachte das Haus erst zwei Stunden später auf. Ihre Verwunderung nahm zu, als sie Hubertine erkannte; denn für gewöhnlich ging Hubert zuerst hinunter. Sie sah sie langsam auf den Wegen des schmalen Gartens wandeln, mit schlaff herabhängenden Armen, das Gesicht bleich in der Morgenluft, als hätte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, sie veranlaßt, nach einer vor Schlaflosigkeit brennenden Nacht so früh ihr Zimmer zu verlassen. Und Hubertine sah immer noch sehr schön aus, in einen einfachen Morgenrock gehüllt, mit ihren eilig zu einem Knoten geschlungenen Haaren; und sie wirkte sehr müde, glücklich und verzweifelt.
Kapitel VIII
Als Angélique am nächsten Tag nach acht Stunden Schlaf erwachte, nach einem sanften und tiefen Schlaf, der ausruhen läßt von großer Glückseligkeit, lief sie an ihr Fenster. Der Himmel war sehr klar, das warme Wetter hielt an nach dem schweren Gewitter, das sie am Abend zuvor beunruhigt hatte; und fröhlich rief sie Hubert zu, der gerade unter ihr die Fenster öffnete:
»Vater, Vater! Seht doch die Sonne! – Ach, wie ich mich freue, das wird schön werden bei der Prozession!«
Rasch kleidete sie sich an und ging hinunter. An diesem Tag, dem 28. Juli, sollte die Wunderprozession durch die Straßen von Beaumont ziehen. Und alljährlich ließen die Sticker an diesem Tag die Arbeit ruhen: sie rührten keine Nadel an, sie brachten den Tag damit zu, die Wohnung nach althergebrachter Weise zu schmücken, die sich seit vierhundert Jahren von der Mutter auf die Tochter vererbte.
Während Angélique schleunigst ihren Milchkaffee trank, beschäftigte sie sich schon mit den Wandbehängen.
»Mutter, man müßte eigentlich nachsehen, ob sie auch noch gut instand sind.«
»Wir haben Zeit«, erwiderte Hubertine mit ihrer sanften Stimme. »Vor dem Mittag werden wir sie nicht aufhängen.«
Es handelte sich um drei wunderbare Stoffbahnen mit alten Stickereien, die die Huberts wie ein Familienheiligtum ehrfürchtig aufbewahrten und die sie einmal im Jahr, an dem Tage, da die Prozession vorüberzog, hervorholten. Schon am Vorabend war der Zeremoniar102, der gute Abbé Cornille, der Sitte gemäß von
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