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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Augenblick blieben sie an dem reich verzierten, alten Gitter, das den Chor überall abschloß, stehen, um den Hauptaltar schimmern zu sehen, dessen Flämmchen sich in dem alten glänzenden Eichenholz der Chorstühle, wundervoller, mit Schnitzereien geschmückter Chorstühle, widerspiegelten. Und sie kamen so zu ihrem Ausgangspunkt zurück, blickten wieder empor und vermeinten das Wehen des Emporschwingens des Kirchenschiffes zu spüren, während die zunehmende Finsternis weiter hinausrückte, die alten Mauern, auf denen Reste von Gold und Malerei dahinschwanden, breiter werden ließ.
    »Ich wußte ja, daß es noch zu früh war«, sagte Hubertine.
    Ohne zu antworten, murmelte Angélique:
    »Wie groß das ist!«
    Es war ihr, als kenne sie die Kirche nicht, als sähe sie sie zum ersten Mal. Ihre Augen irrten über die reglosen Reihen der Stühle, wanderten in die Tiefe der Kapellen, in denen man nur an einem stärkeren Dunkel erriet, wo die Grabsteine standen. Doch sie stieß auf die HautecœurKapelle, sie erkannte das endlich ausgebesserte Fenster wieder, mit seinem heiligen Georg, der im verlöschenden Tageslicht undeutlich war wie eine Erscheinung. Und sie freute sich sehr, ihn wiederzusehen.
    In diesem Augenblick belebte ein Beben die Kathedrale, die große Glocke begann wieder zu läuten.
    »Ach«, sagte sie, »da sind sie, sie kommen die Rue Magloire herauf.«
    Diesmal stimmte es. Ein Menschenstrom ergoß sich in die Seitenschiffe, und man fühlte von Minute zu Minute stärker, daß die Prozession nahte. Immer mächtiger wurde dieses Gefühl beim Schwingen der Glocke, beim gewaltigen Wehen, das von draußen durch das weit offenstehende Hauptportal hereinkam. Gott kehrte heim.
    Angélique, die sich auf Hubertines Schulter stützte und auf die Zehenspitzen reckte, betrachtete dieses offenstehende Portal, dessen Rundung sich von der weißen Abenddämmerung des Place du Cloître abhob. Zunächst tauchte der Subdiakon wieder auf, der das Kreuz trug, links und rechts von ihm je ein Akolyth mit einem Leuchter; und hinter ihnen kam eilig der Zeremoniar, der gute Abbé Cornille, außer Atem, ganz erledigt vor Erschöpfung. An der Schwelle der Kirche hob sich jeder, der dort eintrat, in einer scharfen und kräftigen Silhouette eine Sekunde lang ab, ertrank dann in der Finsternis im Kircheninnern. Es waren die Laien, die Schulen, die Vereine, die Bruderschaften, deren Banner gleich Segeln hin und her schwankten und dann plötzlich vom Dunkel verschlungen wurden. Man sah die bleiche Schar der Marienjungfrauen wieder, die, mit ihren hellen Engelsstimmen singend, hereinkamen. Die Kathedrale schluckte noch immer die Massen, das Kirchenschiff füllte sich langsam, die Männer rechts, die Frauen links. Doch es war Nacht geworden, der Platz in der Ferne war mit Funken übersät, mit Hunderten sich bewegender Lichtchen, und jetzt kam die Geistlichkeit mit den brennenden Kerzen außerhalb der Zuglinie, eine doppelte Schnur gelber Flammen, die durch das Tor schritt. Das nahm kein Ende, die Kerzen folgten aufeinander, wurden immer mehr, das Priesterseminar, der Klerus der verschiedenen Pfarren, die Kathedralgeistlichen, die Vorsänger, die den Wechselgesang anstimmten, die Domherren in weißen Chorröcken. Und nach und nach erhellte sich jetzt die Kirche, bevölkerte sich mit diesen Flammen, war festlich erleuchtet, übersät mit Hunderten von Sternen gleich einem Sommerhimmel.
    Zwei Stühle waren frei, Angélique kletterte auf einen.
    »Komm herunter«, sagte Hubertine mehrmals, »das ist verboten.«
    Aber Angélique blieb seelenruhig auf dem Stuhl stehen.
    »Weshalb verboten? Ich will sehen ... Oh, ist das schön!« Und sie vermochte schließlich ihre Mutter zu überreden, auf den anderen Stuhl zu steigen.
    Jetzt glutete die ganze Kathedrale. Dieses Gewoge von Kerzen, das sie durchwallte, entzündete Lichtreflexe unter den geduckten Gewölben der Seitenschiffe, tief in den Kapellen, in denen das Glas eines Reliquienschreins, das Gold eines Tabernakels aufleuchteten. Selbst im Umgang der Apsis, ja sogar in den Totengrüften wurden Strahlen wach. Der Chor flammte mit seinem in Brand gesetzten Altar, seinen schimmernden Chorstühlen, seinem alten Gitter, dessen Rosetten sich schwarz abzeichneten. Und das Emporschwingen des Kirchenschiffes war noch stärker zu spüren, unten an den stämmigen schweren Pfeilern, die die Rundbögen trugen, oben an den Bündeln sich verjüngender, blühender Säulchen zwischen dem Maßwerk der Spitzbögen,

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