Der Traumhändler
zurücklag, litt er nun unter Atemnot, Herzrasen und Schweißausbrüchen. Das Schlimmste war aber, dass sein bereits vorher verwirrter Geist nun von Halluzinationen heimgesucht wurde.
Nachdem er die Brücke hatte auf sich zustürzen sehen, sah er jetzt riesige Spinnen und Ratten über die Wände laufen und fürchtete, von ihnen gefressen zu werden. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, seine Hände zitterten, und er schien hohes Fieber zu haben. Wie der Meister später sagte, kann man vor den äußeren Ungeheuern fliehen, aber nicht vor den inneren. Dem menschlichen Geist fällt es erstaunlich leicht, seine eigenen Gespenster zu schaffen, die ihm dann auflauern. Auch im Digitalzeitalter sind unsere primitivsten Gefühle noch lebendig.
Bartholomäus versuchte, sich gegen die Ungeheuer, die ihn verschlingen wollten, zu wehren. Er schrie in Todesangst: »Chef, hilf mir! Hilfeee!«
Wir versuchten, ihn zu beruhigen und dazu zu bringen, sich auf eine alte Tomatenkiste zu setzen. Aber er sprang ständig auf, da ihn immer neue Halluzinationen plagten. Schließlich riss er sich los und rannte quer über die Straße. Nie hätte ich gedacht, dass die fünf Millionen Alkoholiker, die es im Lande gab, solche Torturen durchmachten. Ich hatte mir tatsächlich eingebildet, sie wären fröhliche Zecher.
Da der Meister fürchtete, Bartholomäus könnte überfahren werden, schlug er vor, ihn ins nächste Krankenhaus zu bringen.
Gesagt, getan. So begann ich, einen kleinen Teil meiner Kraft jemand anderem zu widmen, ohne etwas dafür zu verlangen. Wir tun zwar nichts völlig ohne Eigeninteresse, doch es gibt eben auch legitime Interessen jenseits von finanziellem Gewinn und öffentlicher Anerkennung, wie zum Beispiel die Freude daran, zu Wohlbefinden und Gesundheit eines Mitmenschen beizutragen. Ein solcher Tausch ist weder im Kapitalismus noch im Sozialismus vorgesehen und der akademischen Welt gänzlich unbekannt.
Mir wurde langsam klar, dass ein Egoist im Kerker seiner Ängste lebt, während jene, die sich dafür einsetzen, den Schmerz anderer Menschen zu lindern, auch ihren eigenen stillen. Ich wusste nicht, ob ich es bereuen würde, diesen Weg eingeschlagen zu haben, ich wusste nicht, was mich noch erwartete, aber ich begann zu ahnen, dass das Handeln mit Träumen auf dem Markt der Emotionen trotz der Risiken ein »gutes Geschäft« war. Das Leiden meines Kumpans war so groß, dass es zumindest für den Augenblick meine eigene psychische Misere und die unzähligen Knoten in meinem Leben in den Hintergrund treten ließ.
Mir wurde bewusst, welche Anstrengung es den Traumhändler gekostet haben musste, mich zu retten. Aber er hatte weder ein Honorar noch Anerkennung oder Dankbarkeit von mir verlangt. Trotzdem war sein Lohn beträchtlich gewesen. Mir zu helfen hatte ihn so glücklich gemacht, dass er auf der Straße getanzt hatte. Was für ein fantastisches »Geschäft«! Das Einzige, worum er mich gebeten hatte, war, es ihm nachzutun.
Und nun setzte ich mich zum ersten Mal für jemanden ein, ohne etwas dafür zu erwarten. Dem egozentrischen Intellektuellen in mir fiel das nicht leicht. Um die Klinik zu überzeugen, Bartholomäus aufzunehmen, musste ich alle Register ziehen und behaupten, er sei in Lebensgefahr. Seine emotionale Krise schien der Notaufnahme nicht zu reichen. Die Krankenhäuser sind nicht auf den Umgang mit psychischen Störungen vorbereitet. Sie können zwar den Körper behandeln, negieren aber die Welt der Psyche. Schließlich gelang es uns, das diensthabende Personal dazu zu bewegen, sich um Bartholomäus zu kümmern. Er bekam ein starkes Beruhigungsmittel und wurde dann schlafend auf eine Station geschoben.
Am Nachmittag kehrten wir in die Klinik zurück, um nach ihm zu sehen. Glücklicherweise ging es ihm besser. Die Halluzinationen waren verflogen. Er wurde entlassen und wollte von uns wissen, was eigentlich passiert war und wie er uns kennengelernt hatte. Er hatte einen Filmriss und konnte sich an nichts erinnern. Der Meister überließ es mir, das Unverständliche zu erklären, und zog sich dezent zurück, da er es nicht mochte, beweihräuchert zu werden.
Ich erzählte Bartholomäus also, wie ich den Traumhändler kennengelernt hatte, wie er mich gerettet und aufgefordert hatte, ihm zu folgen, und wie wir ihn, Bartholomäus, aufgegabelt hatten. Ich berichtete ihm vom Tanz auf der Straße, von der Frage nach dem größten Traum, vom Lager unter der Brücke und seinen nächtlichen Wahnvorstellungen. Er
Weitere Kostenlose Bücher