Der Traumhändler
denen statt Bettdecken ein paar Lumpen lagen. Zu trinken gab es nur abgestandenes Wasser aus einem Plastikkanister. Ein solches Elend hatte ich noch nie aus der Nähe gesehen. »Und das ist der Mann, der mich vor dem Selbstmord bewahrt hat?«, fragte ich mich.
Es war alles so jämmerlich, dass sogar Bartholomäus protestierte. Ich begann ihn zu mögen. Er kratzte sich am Kopf und rieb sich die Augen, um sich zu vergewissern, dass er keine Halluzinationen hatte: »Chef, bist du sicher, dass du hier wohnst?«
Langsam kehrte er in die Wirklichkeit zurück und ahnte nun, dass er in das falsche Raumschiff eingestiegen war. Sogar er hatte noch nie unter einer Brücke übernachten müssen, sondern schlief für gewöhnlich im Gartenhäuschen irgendwelcher Bekannten, im Hinterzimmer einer Kneipe oder, wenn es schlimm kam, in einer Obdachlosenunterkunft.
»Ja, Bartholomäus, das ist mein Heim. Und wir haben eine lange Nacht vor uns.«
Damit war mitnichten gemeint, dass wir auf den alten Matratzen vor Rückenschmerzen nicht würden schlafen können, sondern, wie sich später herausstellte, der Horror, den der Meister bereits voraussah.
Zum Abendessen gab es trockenes Brot und altes Gebäck, das aber noch nicht schimmelig war. Obwohl ich sie eigentlich hasste, erschienen mir Hamburger plötzlich als paradiesisches Mahl. Nachdem ich ein paar Stücke abgebissen hatte, beschloss ich, mich hinzulegen. Wer weiß, vielleicht würde ich am nächsten Tag aufwachen und merken, dass alles nur ein Albtraum gewesen war. Ich rollte ein Stück Pappe zusammen und bettete meinen Kopf darauf. Aber mein Geist war in Aufruhr.
Ich wollte entspannen und sagte mir: »Beruhige dich. Studierst du nicht gerne exzentrische Bevölkerungsgruppen? Jetzt bist du ein Teil von ihnen. Das wird deiner akademischen Karriere nützen. Zumindest wirst du eine interessante soziologische Erfahrung machen. Erinnere dich daran: Eroberungen ohne Risiko sind Träume ohne Verdienst.«
Mir war weiterhin schleierhaft, auf was ich mich da eingelassen hatte. Ich wusste nur, dass ich den Mikrokosmos meines Vorlesungssaales verlassen hatte, um in den Kosmos einer gesellschaftlichen Unterschicht einzutauchen, die mir völlig unbekannt war. Ich war ein theoretischer Soziologe.
Da ich es einfach nicht schaffte, einzuschlafen, versuchte ich es mit einer anderen Technik. Ich begann, die Lektionen, die mir in den letzten Stunden erteilt worden waren, Revue passieren zu lassen, und versuchte, mich an alle Einzelheiten zu erinnern. Der Eindruck, den dieser merkwürdige Mann auf mich gemacht hatte, war so stark, dass mein Selbstmordversuch gegenüber dem Lager unter der Brücke und der Wanderung durch die Stadt bereits verblasste.
Plötzlich hatte ich eine Eingebung. Alle Menschen sollten wenigstens einen Tag lang ziellos umherlaufen, um die verlorene Verbindung zu ihrem Inneren wiederherstellen zu können.
Diese Gedanken entspannten mich, sodass auch mein Geist langsam zur Ruhe kam und ich schläfrig wurde. Ich hatte begriffen, dass es unsere Ängste sind, die bestimmen, wie weich das Bett ist. Nur wer lernt, in sich selbst zu ruhen, schläft gut. Ich begann zu denken wie der Meister. Aber ich wusste nicht, welcher Horror mir noch bevorstand. In diesem Moment war die alte Matratze jedenfalls das beste Nachtlager, das ich je gehabt hatte.
Ein Trupp schräger Vögel
E s war vier Uhr morgens, kalt und sehr windig. Ich schreckte plötzlich hoch, weil jemand verzweifelt schrie.
»Die Brücke stürzt ein! Die Brücke stürzt ein!«, brüllte Bartholomäus. Er keuchte und zitterte vor Angst.
Mir schlug das Herz bis zum Hals. Voller Panik sprang ich auf und wollte fliehen.
Doch der Meister hielt mich am Arm fest und sagte, ich solle mich beruhigen.
»Beruhigen?! Wir können erschlagen werden!«, rief ich mit Blick auf alte Risse, die mir im Dunkeln frisch erschienen.
Er antwortete ruhig: »Bartholomäus deliriert. Er hat Entzugserscheinungen.«
Mein Überlebenswille war erwacht, obwohl ich wenige Stunden zuvor meinem Leben ein Ende bereiten wollte. Mein betrunkener, vertrottelter Kumpan hatte mir eine der größten Entdeckungen meines Lebens ermöglicht: Ein Selbstmörder will nicht sich töten, sondern seinen Schmerz. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen, hatte aber immer noch Herzklopfen. Ich sah Bartholomäus an, der weiterhin völlig verängstigt war.
Er hatte einen Anfall von Delirium tremens. Da er Alkoholiker war und sein letzter Schnaps bereits mehrere Stunden
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