Der Traumhändler
Welt einzutauchen. Ohne Geld und Zuhause fühlten wir uns schutzlos und ausgeliefert und bekamen einen Eindruck davon, wie sich die Juden im Dritten Reich gefühlt haben oder die Palästinenser im Mittleren Osten noch fühlen mussten. Wir waren auf einmal nichts anderes mehr als einfache menschliche Wesen. Das Experiment machte allen deutlich, dass unsere wahre Menschlichkeit normalerweise von starren ethischen Überzeugungen und dem Streben nach Macht, Titeln und gesellschaftlichem Status verschüttet ist.
Honigschnauze suchte für den Handel mit Träumen die Orte auf, die er am besten kannte, nämlich Kneipen und Nachtlokale, wo er immer wieder in die Klemme geriet. Die Gäste gossen ihm Wodka ins Gesicht, beschimpften ihn und jagten ihn davon: »Hau ab! Du bist wohl besoffen!« Er selbst verlor mehrmals die Geduld und drohte damit, irgendwelche Trunkenbolde zu ohrfeigen. Ihm wurde langsam bewusst, welche Schwierigkeiten er seinen Mitmenschen bereitet hatte.
Dimas und er halfen jedoch auch Betrunkenen wieder auf, hörten sich ihr hohles Geschwätz an und trösteten sie. Nicht wenige sagten, sie tränken, um zu vergessen. Sie waren finanziell am Ende, fühlten sich betrogen und im Stich gelassen. Honigschnauze und Engelskralle hatten zwar keinen Zaubertrank parat, liehen ihnen jedoch wenigstens ihr Ohr.
Am Ende des ersten Tages ging Bartholomäus auf einen Mann im besten Alter zu, der allein an einem Tisch saß, und sagte höflich zu ihm: »Mein Herr, ich möchte Sie nicht stören. Ich möchte nur wissen, womit ich Ihnen dienen kann.«
Die Antwort ließ nicht auf sich warten: »Zahlen Sie mir noch einen Whiskey!«
Dimas sagte, er hätte kein Geld. Da schob der Säufer ihn unsanft beiseite und wurde ausfällig: »Dann zieh Leine, sonst rufe ich die Bullen.«
Bartholomäus packte ihn daraufhin am Kragen, doch gerade, als er ihn durchschütteln wollte, fielen ihm die Worte des Meisters wieder ein, und er rief wütend: »Echt schade, dass sich die Zeiten geändert haben!«
Der Säufer hatte sich schützend die Arme über den Kopf gelegt und ließ sie wieder fallen. Er konnte zwar nicht mehr klar denken, hatte aber gemerkt, dass er sich danebenbenommen hatte. Er entschuldigte sich und lud die beiden ein, sich zu ihm zu setzen. Dann begann er zu weinen.
Nach einer Weile hatte er sich wieder etwas beruhigt und stellte sich vor. Er hieß Lukas und war Chirurg gewesen, bevor er durch einen Kunstfehler alles verloren hatte. Das Leben des betroffenen Patienten war zwar nicht in Gefahr gewesen, doch hatte dieser ihn mithilfe eines gewieften Anwalts verklagt, und da Lukas keine Rechtsschutzversicherung hatte, verlor er durch den Prozess alles, was er in zwanzig Jahren Berufsleben aufgebaut hatte. Nun war er hoch verschuldet, konnte sein Haus nicht mehr abbezahlen und stand kurz davor, auf die Straße gesetzt zu werden. Natürlich konnte er auch den Kredit für seinen Neuwagen nicht mehr bezahlen, der daher gepfändet werden sollte.
»Weine nicht, mein Freund! Du kannst immer noch unter einer Brücke wohnen!«, sagte Bartholomäus und versetzte Lukas damit in noch größere Panik.
Da trat Dimas auf den Plan. Um den Arzt zu trösten, erzählte er ihm seine eigene Geschichte, die auch Bartholomäus noch nicht kannte. Sein Vater wurde wegen eines bewaffneten Raubüberfalls zu fünfundzwanzig Jahren Gefängnis verurteilt, als er noch klein war. Seine Mutter begann daraufhin eine Affäre mit einem anderen Mann und ließ den fünfjährigen Dimas und seine zweijährige Schwester allein. Die beiden wurden in verschiedene Waisenhäuser gesteckt, und Dimas sah seine Schwester, die kurz darauf adoptiert wurde, nie wieder. Er selbst fand keine Adoptiveltern, da niemand einen dunkelhäutigen fünfjährigen Jungen wollte. Er wuchs daher im Heim auf und musste sich früh daran gewöhnen, auf sich gestellt, ohne die Zuneigung und Unterstützung einer Familie, zu überleben. So hatte er auch keine Ausbildung.
Bartholomäus bekam Mitleid mit seinem Freund und versuchte nun, ihn zu trösten: » My friend , und ich hab immer gedacht, du bist ein Dieb und Betrüger! Ich hatte ja keine Ahnung! Wahrscheinlich bist du noch der Normalste von uns Spinnern!«
Doktor Lukas war von Dimas’ Geschichte so bestürzt, dass er sogar wieder etwas nüchtern wurde. Er wollte mehr von ihm wissen, und so unterhielten sie sich schließlich über drei Stunden lang. Dann verließen sie die Kneipe Arm in Arm und sangen: »Ein Freund, ein guter Freund, das ist
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