Der Traurige Polizist
innerlich. Das ist wahr, mein Freund, das kann ich verstehen. Ich kenne Demütigungen.
Der Mann sprach über das Libretto. Joubert hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Er lauschte jedem Wort, suchte nach Anhaltspunkten.
Er stellte fest, daß es sich um die Geschichte handeln mußte.
»Wir haben das große Glück, daß dieses Jahr in der Produktion der bekannte italienische Tenor Andro Valenti den Figaro übernimmt«,
sagte der Mann mit der sanften Stimme und wandte sich um. Hinter ihm erhob sich ein anderer Mann. Die Leute klatschten, und
Valenti verbeugte sich. »Andro wird die erste Arie singen, ›Largo al factotum‹. Sie kennen sie alle.«
So, wie das Publikum klatschte, war Joubert klar, daß alle sie kannten und mochten.
Er beobachtete den Italiener. Der Mann war nicht groß, aber er hatte breite Schultern und eine breite Brust. Er stand entspannt
da, die Hände locker an den Seiten, die Beine ein wenig gespreizt. Eine junge Frau hatte am Piano Platz genommen. Sie nickten
einander zu. Der Italiener lächelte, als die Noten des Pianos erklangen. Er atmete tief ein.
|218| Joubert war überrascht ob der Intensität von Valentis Stimme. Es war, als hätte jemand plötzlich ein Radio eingeschaltet,
dessen Lautstärke zu hoch gedreht war.
Die Stimme des Italieners erfüllte den Saal. Er sang in seiner Muttersprache und wiederholte oft den Namen Figaro. Die Musik
war leicht und rhythmisch, die Melodie erschien Joubert überraschend angenehm. Und Valenti sang vollkommen selbstvergessen.
Joubert war fasziniert vom Auftreten des Mannes, seiner Begeisterung, seiner Selbstsicherheit, seiner Stimme, die den Holzboden
unter Jouberts Füßen zittern ließ, der Leichtigkeit, mit der er sang. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das ihm Schuldgefühle
einflößte, eine Art Anklage. Er versuchte zu verstehen, was es war, doch es fiel ihm nicht leicht, die positive Stimmung abzustreifen,
welche die Musik in ihm auslöste.
Der Italiener genoß es. Dies war sein Beruf, er konnte ihn gut, und er genoß ihn ohne Scham.
Wie ganz anders als Captain Mat Joubert.
Er war mißtrauisch. Hatte Hanna Nortier ihn deswegen hergebeten? War dies eine geheime, geschickte Form der Therapie?
Die Stimme des Mannes, die süße Ausgelassenheit der Melodie hüllten ihn wieder ein. Sie erfüllten Joubert mit einem eigenartigen
Verlangen. Er konzentrierte sich auf die Musik, er erlaubte es dem Verlangen in seinem Unterbewußtsein zu wachsen, namenlos
und formlos.
Es wurde ihm klar, direkt bevor Valenti die Arie beendete. Er wollte auch aufstehen und singen, er wollte neben dem Italiener
stehen und singen, um ebenfalls die Euphorie zu empfinden. Er wollte, daß das Leben in ihm loderte wie Feuer. Er |219| wollte seine Arbeit mit vollem Einsatz und beispielloser Effektivität erledigen. Er sehnte sich nach Begeisterung, nach Leidenschaft,
nach jenen seltenen Augenblicken der Intensität, in denen man das Gefühl hatte, das Leben sei schön. Er sehnte sich nach dem
Leben an sich. Er war müde, er war des Todes überdrüssig. Er verspürte eine solche Sehnsucht nach Leben. Dann klatschte das
Publikum. Mat Joubert klatschte ebenfalls. Lauter als alle anderen.
Sie tranken Kaffee in einem Restaurant.
»Hat es Ihnen gefallen?« fragte sie.
»Ich verstehe nichts von Oper.«
»Man muß nichts davon verstehen, um daran Gefallen zu finden.«
»Ich … äh …« Er war sich der Tatsache sehr bewußt, daß sie Psychologin war, daß sie seine Wort abwägte. Er ließ Kopf und Schultern
sinken. »Es war wunderbar, am Anfang. Aber dann …«
»Kamen Sie sich vor wie ein Kind, das zuviel Süßigkeiten gegessen hat?«
Er verstand nicht gleich, was sie meinte. Sie erklärte es ihm. Zuerst ist es wunderbar, süß und herrlich, doch dann ist es
zuviel.
»Ja«, sagte er, überrascht, daß sie ihn so gut verstand.
»Es ist die sensorische Überlast. Sie hatten Glück, daß es nicht Wagner war.«
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte er. »Hat er ein Vorstrafenregister?«
Er überraschte sich selbst mit seinem Scherz, mit der Art, wie er mit ihrem Wissen und seinem Unwissen umging.
Sie lächelte. Er erhaschte einen Blick auf ihre Persönlichkeit, |220| denn das kleine Lächeln war nur eine winzige Bewegung ihres hübschen, schmalen Mundes. Um ihre Augen lag immer noch Nachdenklichkeit.
Sie hatte etwas Zurückhaltendes an sich, als wäre sie sich jedes Gefühls und aller Reaktionen anderer auf ihre
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